aus: SPEED
Die ewige Jugend von Amphetamin, Arbeit, Rausch und Beschleunigung
Verdopplung des Lebens
Frances Ethel Gumm beginnt ihre Karriere als Zweijährige im Theater ihrer Eltern in Grand Rapids, Minnesota. Dort tritt sie in den Zwanzigerjahren gemeinsam mit ihren beiden Schwestern als die Gumm Sisters auf. Frances wirkt höchst niedlich und ist bald als Baby Gumm über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Da sich mit einem Namen wie Gumm auf Dauer kein Blumentopf gewinnen lässt, tauft ein Produzent die Zwölfjährige in Garland um. Das tüchtige Mädchen gibt sich selbst den Vornamen Judy.
Vier Jahren später wird Judy Garland noch einmal eine Andere: Metro Goldwyn Meyer wählt sie für die Hauptrolle in dem Filmmusical Wizard of Oz aus. Doch die pubertierende Darstellerin ist für den Charakter der kindlichen Dorothy körperlich eigentlich zu alt besetzt. Jetzt fürchten die Produzenten, die immer weiblicher werdenden Formen des Mädchens könnten sich im Verlauf der Dreharbeiten unpassend abzeichnen. Das Gröbste kann mit dem Kostüm reguliert werden, gegen den Rest verschreibt der Arzt des Filmstudios Benzedrine®. Zwar wird das Präparat zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Appetitzügler beworben, verkauft sich aber rasant als solcher, weil das Wissen um die Wirkung von Mund zu Mund weitergereicht wird.
Unter Produktionsdruck dosiert der Werksarzt die den Appetit zügelnden Tabletten so hoch, bis Hunger und damit das Wachstum des Busens der Darstellerin auf Null reduziert werden können. Im chemisch gefassten Körper treten aber ungeplante Nebenwirkungen auf: mit sperrangelweit aufgerissenen Augen, die aus endloser Ferne strahlen wie ein Atomkraftwerk, singt Garland unter der magischen Hand das Lied Over the rainbow. Der überdrehte Ohrwurm aus dem verzauberten Land wird zu einer Pioniertat der amphetaminverstärkten Popkultur. Ein Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, nimmt das flachgehungerte Mädchen 1938 den ersten, durch das Medium einer synthetischen Droge gesungenen Superhit auf.
Medium ist dabei weniger spirituell zu verstehen, als in der von dem Medientheoretiker Marshall McLuhan formulierten Bedeutung, als technisches Verfahren, welches Maßstab, Tempo und Schema der menschlichen Wahrnehmung verändert. Verschoben wird zudem die Empfindung des Selbst und was es aussendet. Das Resultat vereint einen Gegensatz: die Droge formt die Benutzerin zur Mittlerin und liefert ihr gleichzeitig ein Gefühl größerer Verfügungsgewalt über die eigenen Möglichkeiten. Eine gesteigerte Wahrnehmung wird in Anschlag gebracht, um sich der eigenen Anwesenheit in der Welt zu versichern und ihre Dimensionen zu manipulieren.
Das Lied aus der Welt hinter dem Regenbogen wird Garlands Markenzeichen auf dem Weg zum Weltruhm. Doch mit den Dreharbeiten für Wizard of Oz endet dann auch Garlands vom Werksarzt der Filmfabrik verschriebene Magersucht. Sie darf jetzt die körperlichen Merkmale einer erwachsenen Frau tragen. Mit ihnen muss sie aber bis zum Umkippen in fremde Hüllen steigen. Und auch in der gespannten Atmosphäre des Bauens, Ausleuchtens, Probens und Drehens wird ihre Leistung weiterhin mit Amphetamin andauernd auf dem Niveau höchster Verfügbarkeit gehalten.
"Wenn wir an einer Produktion arbeiteten, ließ man uns Tag und Nacht ohne Pause schuften. Man gab uns Aufputschtabletten, damit wir uns, obwohl wir völlig ausgelaugt waren, noch länger auf den Beinen halten konnten. Dann brachte man uns in die Krankenstation auf dem Studiogelände. Nach vier Stunden wurden wir wieder geweckt und man gab uns erneut die Aufputschpillen, damit wir weitere zweiundsiebzig Stunden ohne Unterbrechung vor der Kamera stehen konnten. Die meiste Zeit erlebten wir unsere Umgebung wie in Trance", diktiert Garland später ihrem Biografen aus der eingebrannten Erinnerung.
Wie bei der Arbeit in geordneten Verhältnissen so geht, verbrennt die Zeit in heißem Feuer. Nach einigen Monaten kann sie sich nicht mehr vorstellen, amphetaminfrei zu leisten, was die Firma von ihr erwartet. Ohne, wirkt ein Tag verhangen und abgeschlossen, mit den Pillen bewegen sich die Klinken wie von selbst, es öffnen sich Licht durchflutete Zimmer für Riesinnen, sie braucht nur einzutreten. Weil die Zimmer so groß sind, fällt ihr gar nicht auf, dass sie die hellen Großkammern ihrer Innenwelt immer seltener verlässt, und das pharmazeutisch geordnete Leben funktioniert auch nach Außen wie am Schnürchen. Doch dann kommt der Tag, als die wartenden Regisseure am Set durchdrehen, während Garland in ihrer Villa ein Brahms-Konzert auf den Plattenspieler legt, den Anfang romantisch findet, um zu vergessen, weiter zuzuhören. Sie bemerkt ihre Absence erst, als die Musik aussetzt und ärgert sich ausführlich. Was nichts daran ändert, dass die anderen weiter warten.
Rücken die Arbeitgeber ihr an solchen Tagen auf den Pelz, hüllt sie sich in Schweigen. Wortlos starrt sie zuerst Dinge an, die noch einen erkennbaren Reiz ausstrahlen. Ab einem bestimmten Punkt heften sich ihre Augen aber mit der Kraft von Saugnäpfen an die Wand und verharren dort. Wer sie in solchen Momenten sieht, glaubt, sie hätte in den ruhevoll lächelnden Mustern der Tapete etwas noch nie Gesehenes entdeckt. Tatsächlich fallen ihr Tiefenillusionen auf, die andere lieber übersehen, in der Sorge, sonst als irr in die Ecke gestellt zu werden. Mag ihr Guckzwang auch sonderlich wirken, verkörpert sie auf der Leinwand wie im Leben, die Ängste einer durchschnittlichen Frau von nebenan: in jedem Moment erwartet sie den Blick der anderen und gibt sich in der unendlichen Sehnsucht hin, es allen recht zu machen. Steigt ihr der Anspruch, der Welt angenehm zu sein, über die Hutschnur, verliert sie stellvertretend für tausend anderen Frauen die Fassung: sie kippt um. Einmal aus den Latschen, bringt die Erschöpfte nicht mal mehr ein trübes Schielen hinter heruntergelassenen Lidern hervor und verschließt die Augen wie eine ausgestopfte Angorakatze. Nach dem sie eine Weile so dagelegen hat, müht sie sich wieder in die Senkrechte, in dem sie ihre straffes Korsett gegen die inneren Abgründe anzieht und sich professionell benimmt.
Ihre Versuche, das Leben gestiefelt und gespornt in den Griff zu bekommen, verlaufen sich über die Wochen aber immer wieder zu öffentlichen Dramen, bei denen immer mehr Menschen zusehen dürfen, allein, um sich in den Kulissen ihres eigenen Leben immer besser zu fühlen. Als das Durcheinander der Beispielfrau in den Filmfabriken, die gerade selbst in eine Krise steuern, langsam zu teuer ausfällt, verschieben ihre Arbeitgeber sie in den billigen, wie zeitgemäßen Rahmen einer Fernsehshow.
Da Garlands Leben zudem wie ein Roman aussieht, überrascht es nicht, als Jaqueline Susann sie zur Vorlage für eine ihrer Hauptfiguren der Darstellung des chemisch beschleunigten Verfalls von Hollywood heranzieht. Die Schriftstellerin legt Nelly O´Hara, einer der Heldinnen von Valley of the Dolls, die Karriere von Judy Garland zu Grunde. O´Hara steigt wie Garland mit Appetitzüglern ein, um ihre Figur entsprechend der Erwartungen ihrer Arbeitgeber zu verbessern. Die Disziplinierung des Körpers führt zu einer Entdeckungsfahrt in künstliche Paradiese. Nach einem Jahr unterwegs, übernehmen die grünen, gelben und roten "Püppchen" das Steuer. O´Haras chemischer Autopilot folgt dabei der Sprache einer Ampel: die grünen Amphetaminkapseln, lassen sie den Hunger vergessen und weisen sie an, loszufahren. Die Gelben, das "Klapsmühlenfutter" Nembutal®, auch "Goof balls" genannt, schaltet sie in ein Drehmoment des inneren Friedens, in dem die Zeit sich verlangsamt und die Welt bald aus betörenden Farben und einlullenden Tönen besteht. Wenn sie die roten Seconal®-Kapseln schluckt, biegt sie einfach in einen toten Raum vorsätzlichen Bewusstseinsverlusts, wo nichts mehr geht. Nach einiger Zeit helfen aber selbst die "Blödmacher", die aussehen wie Feuerlöscher in einer Mikrowelt, nicht mehr. Zu hartnäckig wacht die Wirkung des Amphetamins vor den Eingängen in die Labyrinthe des Schlafes. O´Hara geht rund um die Uhr im Kreis. Es dauert nicht lange, bis sie entdeckt: die Püppchen dringen in Verbindung mit Alkohol wieder in ihr Gehirn vor. Sie zählt eins und zwei zusammen und beginnt zu trinken. Im Tal der Puppen kehrt wieder Ordnung ein.
Susanns nacherzählte Drogenkarriere, der glitzernd wie gewöhnlich vollgepumpten Frauen vor den Kameras, schlägt ein wie eine Bombe und entwickelt sich mit mehr als achtundzwanzig Millionen verkauften Exemplaren nicht nur zu einem imposanten Verkaufserfolg, sondern der erfolgreichsten Drogengeschichte seit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies.
Auf der Leinwand ist Garland mittlerweile mehr ein Zufallstreffer, Schatten oder Gerücht, von dem es nur manchmal einen flüchtigen Blick zu erhaschen gibt. Ständiger Widerstand gegen die unverschleierte Weltsicht hat ihr Gesicht deutlich gezeichnet, weshalb die meisten Filmproduktionen nur noch wenig Interesse an ihr zeigen. Doch dann kommt wieder ein Angebot. Die Firma 20. Century Fox bietet Judy Garland 1967 eine Nebenrolle in Mark Robesons Verfilmung von Valley of the Dolls an. Nach dem Erfolg des Buches, konnte Garland sich ausmalen, welche Abgründe in der Mitarbeit lauerten. Aber allein, weil sie das Honorar dringend braucht, unterschreibt sie den Vertrag. Und was sprach dagegen, in ihrer eigenen Demontage aufzutreten?, nachdem die Gesellschaft des Spektakels ihren Körper belagert, besetzt und verwüstet hatte - was konnte ihr noch passieren?
Sie unterlässt die Anstrengung, ihren Text zu lesen. Wieso sollte sie? Was konnte es anderes sein, als etwas was sie schon kannte und sich noch einmal wiederholt? Drehtag heißt, sie erscheint spät oder gar nicht am Set. Lieber schweift sie ziellos auf dem Gelände der Filmfabrik umher, als handele es sich um eine besonders abwechslungsreiche Umgebung. Hintergründe flattern. Sie hebt ein matschiges Blatt vom Boden. Ein Himmel gibt sich fliederfarben oder sie wartet nur darauf. Wörter ringeln sich in ihren Kopf zu Arabesken. Hinter einem Baum, aus dessen Astlöchern erstaunliche Laute dringen, denkt sie darüber nach, ein Glas Milch zu holen. Während sie den Vorsatz in den Händen wiegt, zieht sich die Zeit zusammen und es wird Mittag. Alle anderen essen an einem langen Tisch, um wieder zur Arbeit zu gehen. Sie hat keinen Hunger. Verfangen in aufregendere Dinge, will sie nicht wieder zur Arbeit gehen, sondern bei dem bleiben, was sich in ihrem Kopf eingesponnen hat, nicht mehr weg will und immer größer wird. Auf Arbeitsanweisungen aus der Welt, auf die sich die anderen geeinigt haben, reagiert sie gerade noch mit dem Blick einer desinteressierten Zehnjährigen.
Ab und zu kann sie die Maske aufrecht halten: dann entgleiten ihr alle Gesichtzüge. Zu was es sich verzerrt, erscheint ihr aber angemessen. Immerhin muten ihr die anderen eine mittelmäßige Hölle zu. Bleiben die Arbeitsaufforderungen hartnäckig, greift sie mit ihren prächtig lackierten Nägeln jäh nach oben, rupft ein Haar aus ihrem Kopf und zerreißt es mit einem gefährlichen Ruck zwischen ihren Fingern. Ihre schmollenden Lippen zeigen sich noch aufgeworfener, und umherhuschende Augen blitzen wie an dem Tag, als der Regen kam. Die Firma engagiert eine Krankenschwester, die Garland auf den Pfad der vertrauten Handlungsmotive zur ück bringen soll. Selbst unter Aufsicht kann sie aber nicht mehr dazu bewegt werden, sich in gewünschter Form zu benehmen, sondern lässt sich von immer abweichenderen Überlegungen und schlichter Arbeitsverweigerung treiben, bis die Produktion sie vor die Tür setzt. Ihren Vorschuss hat sie schon um die Ecke gebracht und für alles andere hat sie gerade keine Zeit.
Zwei Jahre nach dem wilden Streik am Set von Valley of the Dolls fühlt Judy Garland sich an einem Abend im Juni 1969 zu matt, um die Schlaftabletten zu zählen, mit denen sie die bedrohlichen Gedankenschlaufen im Bett überspringen will. Sie nimmt lieber zuviel, als zu wenig. Es passt und sie rauscht bald in dem vertrauten Tunnel gerade aus, bis es plötzlich jäh bergab geht, so plötzlich, dass sie nichts mehr hält. Im selben Moment ist da nur noch ein endlos tiefes Fallen in eine Spalte aus der sie nie zurückkehrt.
Garlands gebrochener Glanz, ihr vielfältig gewobenes Verhältnis mit Drogen und Alkohol, eine Reihe zerbrochener Ehen, eine verzweifelte Suche nach Liebe und Selbstbestimmung, all das hatten die Traumbesetzung der Opferrolle schon in den sechziger Jahren zu einer Identifikationsfigur der Homosexuellen gemacht. In der Woche nach ihrem Tod organisieren ihre Verehrer eine Trauerfeier in der größten New Yorker Schwulentanzbar, dem Stonewall Inn in Greenwich Village.
Als die Polizei um zwanzig nach eins das Lokal stürmt, spielt der Musikautomat gerade die Amphetaminhymne Over the Rainbow. Eine oder einer verweigert sich, als ein ungewaschener Polizist ihn oder sie aufgefordert, sich mit gespreizten Armen und Beinen an die Wand zu stellen. Der Beamte greift nach seinem Knüppel, während die Hand der Umgebauten elegant am metallblonden Hinterkopf vorbeigeleitet. Erst scheint es mehr eine Handvoll prächtig lackierter Fingernägel, die da vorgeführt werden soll. Im nächsten Moment trifft die plötzlich blitzschnelle Faust den Polizisten mitten im Gesicht. Sekunden später sind zwei Dutzend Gäste und Polizisten wild ineinander verkeilt.
Was als Massenschlägerei in der Bar beginnt, weitet sich innerhalb von Stunden zum Stonewall Riot aus. Die nächtliche Straßenschlacht wird zum Startschuss für die weltweite Revolte der Homosexuellen gegen ihre Unterdrückung.
Die schon zuvor über den Regenbogen in das schwule Nachtleben gewanderten Amphetamine verkörpern nun nicht mehr nur eine drogengefütterte Vergnügungslust in den Clubs, sondern formulieren eine Geste des Widerstandes gegen das von der Normalisierungsgesellschaft Aufgestellte und fordern die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper.
SPEED Die ewige Jugend von Amphetamin, Arbeit, Rausch und Beschleunigung erscheint im Januar 2008.