Très Riches Heures, Teil 2
Was bisher geschah: Ich beobachte mich beim endlosen Surfen nach Informationen, die ich gleich wieder vergesse. Etwas an der Verzögerung meiner Zeit durch diese Maschine beunruhigt mich. Ich mache mich auf die Suche nach dieser Zeit und bemerke den Gummischuh, der 1992 auftauchte – das war das Modem. Teil 1 führt nun ungefähr ins Jahr 2000 und den Aufbruchsphantasien von Last Tuesday und Bootlab.
Rückschläge bereitete weiterhin die Telekom, die uns zwei Jahre in unserem neuen Büro keinen W-Lan Anschluss gab, und 2004 wurden wir nochmals aufgestört, weil es plötzlich hieß, wir bräuchten einen Blog. 2007 kriegte ich eine kleine Depression, als ich das erste mal nach zwei Jahren wieder in Friendster reinschaute und immer noch dieselben vier Freunde hatte, die ich am ersten Tag akkumuliert hatte. Das sollte mir mit Facebook nicht passieren, also ging ich nicht rein, bis ich die erste Freundschaftsanfrage aus Afrika bekam und ein schlechtes Gewissen mich zwang, sie zu akzeptieren. Endlich, dachte ich, kann sich mal Afrika auch mit der Welt verbinden, und ich markiere jetzt den Snob und bin da schon drüber? Das ging nicht. Nicht alle in dieser Redaktion waren immer auf demselben Stand, und jeder hatte seine eigenen Vorlieben, aber 2011 war es dann so weit, dass der erste seinen Router zu Hause wieder ausschaltete, auf der Suche nach einer Zeit, in der er schreiben könnte. Zeitgleich entwickelte ich eine Neugierde für die Person, die ich mal gewesen sein muß, und für die Tätigkeiten, die mich in jenen 25% meiner Zeit beansprucht haben müssen, vor… vor noch gar nicht so langer Zeit.Der neorealistische österreichische Film Anni von 1951 erzählt eine Familientragödie aus dem Leben Wiener Ziegeleiarbeiter (was ihm auch den Titel „Bitterer Ziegel“ eingetragen hat) in langen Einstellungen, zumeist aus dem Inneren einer Wohnküche. In den meisten Einstellungen sitzen die Menschen auf ihren Stühlen und glotzen stumpf in eine Ecke des Zimmers. Da es noch keinen Fernseher gab, ist diese Ecke leer. In der Wirklichkeit wurde sie dann bald mit dem Fernseher aufgefüllt, und diese Tätigkeit erhielt eine Richtung. War das vor dem Internet auch so? Glotzten wir leer in eine Richtung, in der dann das Internet auftauchte? Natürlich nicht! dachten sich viele Menschen parallel, was ich daran merke, dass ich auf viele treffe, die eine ähnliche Frage haben. Was haben wir früher getan? Wo ich sie treffe? Natürlich im Internet.Ich stieß auf diese Diskussion rund um das Programm MacFreedom, das es dem Nutzer erlaubt, sich für eine vorher gewählte Zeit von seinem eigenen Computer aus dem Internet katapultieren zu lassen. Ohne Neustart, der wäre time consuming, wenn man mitten im Schreiben eines Textes ist, und noch Versionen behalten möchte, lässt es einen an die E-Mails und Nachschlagewerke, Ablenkungen und Feinschliffinstrumente, an das Netz, nicht mehr heran. Lässt einen also ARBEITEN – jedenfalls behaupten das The New Yorker, Time Magazine und The Times, The Guardian, The Wall Street Journal und Heise. Ich las alle, online.
Gemeinsam ist all diesen Artikeln eine Beschreibung des eigenen Internetverhaltens als Teil des Textes, also eine Beobachtung des eigenen Verhaltens während der Text geschrieben wurde, die meines Erachtens wirklich redundant ist, systemimmanent und in einer engen Input-Output Schleife, nicht bloß voneinander kopiert (obwohl alle diese Texte auch in einer viel engeren Schleife miteinander entstehen, so wie dieser Text nun auch in diese Schlaufe und aus ihr gebaut ist). Jeder Autor, jede Autorin beschrieb in ihrem oder seinem jeweiligen Text, was er oder sie gerade tat, während er oder sie diesen Text schrieb, genauso wie ich, als ich diesen anfing – und noch nichts von MacFreedom wusste – und einer von jenen, die sich experimenteller Weise auf MacFreedom eingelassen hatten, kam zu dem Schluss, dass er oder sie, ohne die Ablenkung des Netzes, sich mit dem genau würfelig Schneiden einer Birne genauso bei Laune – aber dennoch mit etwas anderem beschäftigt – hielt, wie beim Wikipedia nachschlagen, was denn jetzt noch mal genau die Sirenen versprachen. Hier wäre er, der leise Hinweis darauf, dass es die leere Ecke, in die wir glotzten, wenn nichts lief, vorher auch schon gab. Demgegenüber steht aber die Behauptung all der anderen, weitaus produktiver zu sein bzw. überhaupt erst wieder ein Gefühl dafür zu bekommen, was diese Produktivität sein könnte. Weiter in den Texten kommt dann auch ein beschriebenes Gefühl der Freiheit hinzu, das sich, im Produktnamen angelegt, durch diese momentane Beschränkung auftat. Daraus ergab sich in zwei Texten – in diesem Fall glaube ich aber voneinander abgeschrieben – das Zitieren von Rousseaus Satz über die Notwendigkeit der erlebten Unfreiheit auf dem Weg zur Freiheit.Diese Diskussion ist einstweilen auch schon wieder alt, und es ist kein Wunder, dass sie die „Literaten“, wie es bei Marx heißt, als erstes erfasst hat, zunächst natürlich, weil sie schreiben und sie dadurch öffentlich machen, aber auch, weil sie an einer bestimmten Schnittstelle der inneren Autonomie und äußeren Heteronomie stehen, innerhalb einer Klasse, die von Marx die Bohème genannt wird und die die Literaten sich mit Spitzeln, Prostituierten und Dieben teilen: abhängig von Bestehenden, dennoch mit nichts als seinen eigenen Ressourcen ausgestattet, unfähig sich zu kollektivieren. Vorbild von dem, was unsere Zeit das Prekariat nennt. Es betrifft sie, weil sie bestimmte, weit systematischer angelegte Widersprüche verstärkt und vereinzelt mit sich selbst auszutragen haben – man schädigt ja durch ausgedehntes Surfen keinen Arbeitgeber, kann sich nicht auf seine oder ihre Schulter schlagen, dem Getriebe oder Stress durch Tachinieren eins ausgewischt zu haben, schöpft nicht für sich in der einem eigentlich enteigneten Zeit. Nein, man ist unbestimmt sich selbst ausgeliefert und einem Etwas gegenüber, von dem man zum Mindesten sagen kann, dass es einen verändert hat. Die Anwendbarkeit der Bohème-Definition auf den oder die Kunstschaffende, für die er nicht bestimmt war, hat die Zeit bewiesen. Seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschränkt er sich fast ausschließlich auf Kunstproduzenten (und verliert so seine momentane Aussagefähigkeit). Die Zusammenfassung ins Prekariat wiederum wird von den meisten Künstlern wegen des pejorativen Klangs des Wortes nicht verinnerlicht, ob der Begriff neben seiner Bedeutung „in ungesicherten Verhältnissen lebend“ noch mehr Politizität entfalten kann wird sich zeigen. Diedrich Diederichsen griff ihn in seinem Text „Our Kind of Venue“ (2014 in X-TRA) wieder auf, der nicht zuletzt wiederum eine Antwort auf Andrea Frasers „There's No Place Like Home / L’1% C’est Moi“ (für die Whitney Biennale 2012 geschrieben) und eine Replik zu Douglas Crimp war, in einem meines Erachtens düsteren Gegenwartsbild betreffend der Situation bildender Künstler und einem dann doch verwunderlichen Nachdenken über „the great old art scene“, und damit einer Reflexivität aufeinander, die ich sonst nicht so hochgehalten sehe. Und diese Anmerkung und dieses Namedropping hat damit zu tun, dass ich weiß, dass all diese Texte nur einen Klick entfernt sind und steht hier als eine Art gedruckter Hypertext, und stellt zugleich einen Satireversuch über die Möglichkeiten von Diskurs durch ein Weiterspinnen von Geschriebenem dar. Obwohl also die Anwendbarkeit dieses Marx’schen Bohème-Begriffes über die beschriebene Gruppe hinaus auf Künstler im Allgemeinen sich durch die Zeit herausgestellt hat und das hier erlebte Gefühl einer diffusen Abhängigkeit, einem Eindruck von verlorener Zeit, einer tiefen Traurigkeit, wenn nicht Trauer, um sein produktives Ich, auch in der Lebensrealität anderer Bohèmisten erlebt werden sollte, kenne ich aber kaum bildende Künstler, die sich damit auseinandersetzen. Verwendet werden die über die Angebote des Internet verfügbar gemachten Möglichkeiten natürlich häufig. Extrapolierte Internetbildrecherchen, E-Bay Auktionen, verfügbares YouTube, alles genützte Medien, zumeist aber in der Selbstverständlichkeit der Verfügbarkeit der Welt eingesetzt, nur selten in der Traurigkeit seiner Redundanz so ausgestellt, wie im Video von Frances Stark auf der Venedig Biennale, das von einer Computerstimme gelesene, über Free Software Animationen dargestellte Protokoll eines Chats auf einer Sexhotline. Eigenartigerweise auch eine der wenigen Arbeiten in diesem Jahr in Venedig, in der es um Sex ging.Es sind aber im Folgenden zwei Kunstwerke oder wie man sagt, zwei Arbeiten, die sich meines Erachtens genauso auf die Suche nach der verlorenen Zeit machen, die mich beschäftigen.
(Fortsetzung folgt…)