Nichts wird so sein wie es war

Ich werde Frau, ich werde Gott

Lily Wittenburg

Ich werde Frau, ich werde Gott. Das klingt wie Verwandlungen, die das Internet einmal versprach. Vor zwanzig Jahren konnte ich mir als einer von vielen einbilden, im Netz könne ich eine Frau werden. Oder die Maschinen würden mir erlauben, alles zu sehen, die Welt wie ein Gott zu überblicken. Das Netz bot mir die Möglichkeit, mein Selbst zu verlassen und aus meinem Körper in die Weite der Körperlosigkeit zu steigen.

Inzwischen wirken solche Vorstellungen hohl. Auf dem Weg hin zu ihrer Entleerung bin ich den Visionen eines Lebens, in dem ich mein Geschlecht und meine Nichtgöttlichkeit durch die Maschine verrücken konnte, mit Vergnügen auf den Leim gegangen.

Ich werde Frau, ich werde Gott, so verwandeln sich Schizophrene innerhalb von Sekunden. Die Vorstellung des Selbst ist bei ihnen immer schon woanders. Es wechselt die symbolische Ordnung, verrückt sich, bevor die Herstellung der Normalität, die große Ausgleichsmaschine, es zu fassen bekommt. Das andauernde Einholen und die Einbindung dessen, was sich verrückt, die Wandlung der Abweichungen und der Ausbrüche in Produktivität, formt eine der zentralen Bewegungsformen, mit denen der Kapitalismus Überschüsse generiert. Das Leben verschiebt sich in Gefügen und das Gefüge verfolgt es. Die Wiedereingliederung des Lebendigen erzeugt Mehrwert. Neue Ordnungen stellen sich her, um wieder auseinander zu fallen.

Schizophrenie spaltet den Geist oder wie es der Entdecker der Krankheit, Egon Bleuer, formulierte: sie fragmentiert die psychischen Grundfunktionen.

Die Wertschöpfung braucht Fragmentierungen. Episoden abnormen Bedeutungserlebens, Spaltungen des Sinns oder explosionsartiger Bewegungsdrang, die Ekstasen der Verrückung sollen als Impuls in das Erstarrende eindringen. Der Ausbruch des am Draht Verrückt-Spielenden wird in frische Information umgewandelt. Die Produktion soll sich durch deren Energie-Impulse weiterbewegen. Das Ziel der Maschine ist es, neues Wissen zu erzeugen. Innovationen sind ein rar gewordenes Gut in den enger werdenden Regelkreisen und werden dadurch noch begehrenswerter.

Abweichungen, Störung und Widerstände beleben die Regelkreise. Der in die Maschine geworfene Schuh der Sabotage, der Widerstand des Materiellen, kann sich jetzt in sein Gegenteil verkehren. Die Maschine verwandelt ihre Reibung in verwertbare Energie. Neue Ordnungen werden jetzt durch Rauschen, Störungen und Widerstände hergestellt. Die Kraft der Schübe presst in die Form, bis der Rohstoff aufhört, sich zu bewegen, die Episode sich erschöpft. Dafür soll sich das Verrückte wieder aufblähen, atmen, damit die Störung und das Überschäumende in Mehrwert gewandelt werden kann. Verrückungen treiben das Fließband. Wir produzieren gemeinsam mit ihm. Bevor ich etwas geworden bin, mich verwandelt habe, wird meine Lebendigkeit schon wieder eingeholt, aufgeschlossen und abgesaugt. Was gerade noch Leben war, ist nun weg, hat sich in den Regelkreis verloren. Was produziert wird, scheint relativ egal.

Die Umwandlung des Lebens in Wert verläuft in Schnitten, nie in Passagen. Fließende Übergänge böten Möglichkeiten zur Flucht.

Ich, der sich für einen Mann hält, verrücke mich in die Vorstellung, Frau zu sein oder Gott. Ich produziere Wirklichkeit, stehe am Fließband oder es produziert gemeinsam mit mir. Bevor ich etwas geworden bin, mich verwandelt habe, wird meine verrückte Lebendigkeit angeschlossen. Die Fabrik steht nicht still, sie erzeugt weitere Einschnitte. Ein Mann, der nicht wirklich Frau geworden ist, fällt schon wieder als Gott vom Himmel. Die Ver-rückungen werden von meinen verschiedenen Begehren getrieben. Gleichzeitig verführt mich mein Wunsch zu überleben dazu, meine lebendigen Überschüsse auszuliefern. Ich habe Angst, ein Alien zu werden, herauszufallen, nicht mehr vermittelbar zu sein. Ich halte meine Organe anschlussfähig.

Es geht nicht um die Behauptung, der Kapitalismus würde verrückt machen. Nein, es geht darum, dass er so produziert, wie das, was wir verrückt nennen. Kapitalismus tickt schizophren. Er spaltet ab und verbindet. Seine Wertschöpfung funktioniert durch Ver-rückung. Er holt meine Bewegung ein, um mich zu zwingen, mich und die Dinge weiter zu verrücken, damit der Regelkreislauf etwas langsamer an sich selbst erstickt. Es wird noch Innovation genannt, es handelt sich dabei aber nur um den Anfang einer Bewegung. Beschreibt man diese in den Kategorien maschineller Beschleunigung, wären sie mit einem Auto zu vergleichen, bei dem ich im ersten Gang mit aller Wucht ins Gas trete. Das Auto verfügt aber über keine Kupplung, mit der ich in den zweiten, dritten, vierten, geschweige denn fünften Gang hoch schalten könnte, um die Energie meines Tritts ins Eisen in eine anhaltende Bewegung zu versetzen. Stattdessen heult der Motor nur spektakulär auf, der Wagen macht einen Sprung und säuft sofort wieder ab. Alles steht still. Ich habe Lärm gemacht, werde nervös durchgeschüttelt, komme aber nicht wirklich weiter.

Wir verlaufen uns ständig in dem, was der Kybernetiker Gregory Batson den Double Bind nennt, die doppelte Sackgasse. Links kann man abbiegen und kommt nirgendwo hin. Rechts kann man abbiegen und kommt auch nirgendwo hin. Solche Bindungen in zwei Richtungen ohne Ausweg erzeugen schizophrene Situationen.

In den gegenläufigen Sackgassen wird noch mehr Abspaltung produziert. Es wird beschleunigt, um zu bremsen. Manches fällt vom Laster, aber es kommt nicht auf Tempo. Um mich zu beruhigen, streichle ich mein Telefon und denke, es gibt nichts Beruhigenderes, als die Oberfläche des Telefons auszuwechseln. Eigentlich denke ich es nicht, sondern eine Stimme am anderen Ende der Leitung flüstert mir das zu. Ich ziehe meiner Verbindung die Haut ab.

Der häufigste Double Bind ist die gegenläufige Flucht im Kopf: In der einen Sackgasse will ich aus der Absurdesten aller Wirklichkeiten raus. Wer will schon im Kapitalismus leben, wo alles Wollust ist, als sei es der perfekte Porno, ein Film, der nie gedreht werden könnte. Alles macht ständig so komische Sachen miteinander, verbindet sich, um sich dann wieder abzuspalten und wegzulaufen. Aber niemand will raus. Nein, alle wollen da rein. Ich auch. Alle wollen im Kapitalismus leben. Ist doch logisch und man kann es verstehen. Der Wunsch zur Flucht widerstrebt der Angst, aus der kapitalistischen Ordnung herauszufallen, in ihr zu versagen. Und irgendwie lieben wir sie doch. Ja, ich liebe es. Ich will da rein. Nein, ich will da raus.

Manchmal fliehe ich am Tag und funktioniere perfekt in meinen Träumen. Manchmal funktioniere ich perfekt am Tag und fliehe in meinen Träumen. Irgendwann steigen die Träume dann über ihre Ufer, auch das nennen sie dann verrückt. Oh, wie verrückt ich gerade war. Bis die Flut meiner Bewegung wieder in die Dinge gegossen wird oder irgendwie anders zu Mehrwert wird.

Der Anti-Ödipus, der erste Band von Kapitalismus und

Schizophrenie, geht noch einen Schritt weiter. Die Wunschmaschinen, die das große Gewebe durch andauernde Überschreitungen ständig weiter ausdehnen, funktionieren nicht nur wie die schizophrenen Maschinen, auch die einzige Möglichkeit, den Maschinen, die einem folgen, zu widerstehen, besteht darin, schizophren zu werden, ein Schizo, der sich entkoppelt, in dem er sich aller Organe entledigt und dadurch nicht mehr anschließbar ist. Organlos lässt sich fliehen. Die Organlosen fliehen, weil sie erkennen, dass jeder Widerstand zwecklos ist. Widerstand verlangsamt nicht nur, er ist der Treibstoff der großen Langsamkeit. Um fliehen zu können, muss man geschmeidig werden. Deshalb lieben alle Spiderman und Wonderwoman. Sie leben unseren Traum, organlose Körper zu werden. Glatt, straff, opak, unanschließbar. Jederzeit bereit, auf einen Wolkenkratzer zu sausen, wo Gott auf sie wartet. Gut dass wir Gott haben, er wartet immer irgendwo.

Das Buch des Philosophen Gilles Deleuze und des Psychiaters Felix Guattari erschien 1972 im französischen Original. Es gilt schon lange als in die Jahre gekommener Klassiker. Warum sich heute, über vierzig Jahre später, damit beschäftigen? Gestern ist schon ein madiger Schinken. Was macht so ein altes Buch noch relevant? Ich behaupte, der Anti-Ödipus bleibt, all seiner verzweifelten Euphorie zum Trotz, bis heute die radikalste Antwort auf die Kybernetisierung des Kapitalismus.

Aktualität erhält der Anti-Ödipus zudem gegenwärtig durch die als Theorem der Post-Internet-Art immer größere Kreise ziehende Diskussion um den „rationalen Akzelerationismus“ Diese neue Bewegung für die vernünftige Beschleunigung versucht ein der Zukunft zugewendetes Denken wieder zu beleben. Das klingt wunderbar und zwingend. Und Geschwindigkeit ist sowieso großartig in den langsamen Gesellschaften, die uns zwingen, in ihnen zu leben. Beschleunigung scheint die einzige Möglichkeit, um dem derzeitigen Stillstand jene träg nervösen Rotationen immer enger geschnallter Produktionszyklen zu entkommen.

Die Sehnsucht nach Geschwindigkeit ist nicht neu und sie ist wunderschön. Immer schneller, sicher. Aber warum vernünftig beschleunigen? Die jüngste Wiederkehr der Akzeleration, eine Art politischer Arm des „Spekulativen Realismus“, sucht die Geschwindigkeit darüber, dass sie sich von einer Metaphysik des Lebens verabschiedet, jenem „Vitalismus“ einer einfach vorhandenen Lebendigkeit und dem Lob der Beschleunigung, die sie bei Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus finden. Brüche mit dem poststrukturalistischen Denken sind fraglos notwendig. Dieser Versuch vernünftelnder Neomarxisten wirkt aber an die falsche Stelle gesetzt.

Die Wiederkehr der Akzeleration sucht die Geschwindigkeit in der Technologie. Deren Potenziale würden vom Kapital aus ökonomischen Gründen unterschlagen. Da lässt sich kaum widersprechen? Da brauche ich mir nur die Computer anzusehen, die vor meinen Augen mit jeder neuen Generation dümmer werden. Technologie aus der Unterdrückung ihrer Potenziale zu befreien, scheint ein redliches Ziel, aber ob man sich all zuviel davon erhoffen sollte, ist zu bezweifeln.

Der Gestus der Gewissheit über gesicherte Methoden der Erkenntnis zu verfügen, wird nur schwerlich in das Unbekannte des Neuen führen. Bedarf es nicht der Bereitschaft, sich zu verlieren? Der neo-akzelerationistische Marxismus wirkt hingegen wie eine verdruckste Sehnsucht nach einer Ordnung, mit der sich alles denken lässt und mit der man sich das mögliche Durcheinander des Möglichen vom Hals hält. Erklärungen, die auf Sicherheit der eigenen Position bedacht sind, begrenzen die Möglichkeiten der Überschreitung. Sie wirken wenig bereit, sich auf das dünne Eis des Risikos und der Überschreitung zu begeben, wollen sich nicht dem Ungewissen einlassen. So gelangt man wohl kaum in eine Zukunft, von der wir uns keinen Begriff machen können.

Schneller werden, unbedingt, Schnelligkeit und Atemlosigkeit sind unendlich verführerisch, aber nicht mehr, wenn man ihnen sofort ansieht, dass die Blicke schon vorher wissen wollen, wo sie ankommen. Man muss wohl in eine Richtung fahren, aber auch bereit sein, woanders anzukommen. Tausend Visionen des Kommenden, um zu starten, aber bitte nicht als „Zurück in die Zukunft“ einer technologischen Zeitreise in Kostümen aus der Klamottenkiste! Nicht wenig, was die Autoren des Manifests für eine Politik des rationalen Akzelerationismus vorschlagen, liest sich einfach wie sozialistische Science Fiction von 1964: Das kybernetische Tischleindeckdich einer besseren Welt, durch eine bessere Industrie mit optimaler Logistik? Statt zwischen solchen Neuaufbereitungen aus der Summa technologiæ von Stanislaw Lem reise ich lieber in den schnellen Gedanken der Schizophrenie, dem Denken der reinen Intensität des Lebens.

Die Waffe Mensch

Eine andere Politik der Beschleunigung und der Intensität des Lebens formierte zeitgleich zum Anti-Ödipus die Vision der „Waffe Mensch“ In ihr sollte der Körper durch seine Menschlichkeit zum Projektil werden, das rasend schnell sein Ziel trifft. Du „tickst zu langsam, fummelst zu lange rum. drehst jedes ding fuffzig differenzierungen und kommst nicht zu dem schluss. zack! schon ist das licht aus. jedenfalls komm mal auf touren, so auf die drehzahl: rasend cool hellwach gelassen blitzschnell heiter. wird ja langsam auch mal zeit. schliesslich sitzen wir alle nur wegen der falschen reflexe“, schreibt Holger Meins im Info der RAF. Zentrale Legitimation für den Kampf der Stadtguerilla war es, die Widersprüche in der Metropole zu beschleunigen. Der Zustand der Verhältnisse sollte durch die Intensivierung seiner Risse eskalieren, um die hässliche Fratze der Bedingungen aus dem grauen Nebel der Langsamkeit ins Licht zu heben. Geschwindigkeit war das Potenzial, durch das die Waffe Mensch zum Projektil werden sollte. Darin lag die Hoffnung, dem Kapitalismus könne durch die Beschleunigung seiner selbst ins Grab geholfen werden.

Der Zusammenbruch des Kapitalismus durch die Intensivierung der Widersprüche stellte sich nicht ein, im Gegenteil, der Zusammenbruch, die Katastrophe, scheint Teil seiner Stabilität geworden zu sein. Die Wirklichkeit nach den Katastrophen der Gegenwart, in der wir leben, ist ein enges Gewebe der Sicherheit. Was vom Leben übrig blieb, überlebt hat, wird vom Willen zur Langsamkeit erdrückt. Alles entschleunigt sich, sucht nach Geschwindigkeiten unterhalb des Todes, als gäbe es ein Tempo jenseits des Stillstands.

Ich bin schon mit dem Wald gestorben, wurde vom atomaren Regen aus Tschernobyl übergossen und bin im Ozonloch verbrannt. Millionen Viren und Karzinome haben meinen Körper zerfressen, jetzt muss ich noch meine Zeit mit dem Klimawandel verschwenden? Was soll das sein, der Klimawandel? Kaum mehr als eine Metapher für die Angst in den Hirnwindungen einer ökonomischen Ordnung, die schon längst am Ende ist und der es trotzdem gelingt, mich zu erfassen. Warum soll ich immer wieder sterben? Sterben ist nicht so spannend, besonders, wenn es sich wiederholt.

Beschleunigung muss heute, nachdem die Katastrophe schon lange stattgefunden hat, anders ticken als vernünftig. Der „rationale Akzelerationismus“ diskreditiert sich spätestens in seinen Beschwörungen des Klimawandels oder in seinem Glauben, die Finanzkrise von 2008 wäre relevant gewesen. Ja, im Reich der Zombies wurde es noch langsamer, noch abgesicherter, noch risikofreier. Wer will, konnte sich verlieren in den Abstufungen der Trägheit.

Aber warum sollten solche Verfeinerungen mich interessieren? Und wie kann man sich schnell bewegen, wenn man ständig noch genauer von der Gefahr redet? Angst produziert Angst und noch mehr selbstähnliche Angst. Die Übersteigerung der Ängste macht immer langsamer.

Gilles Deleuze und Felix Guattari versuchten der Verführung zu widerstehen, lediglich eine Metapher zu erfinden. Sie wollten Maschinen, wie den organlosen Körper, mit denen man schneller fliehen kann, immer schneller. Schneller als Spiderman und Wonderwoman. Schneller als das Licht.

In der Dramatisierung des Mythos durch Sophokles tötet Ödipus, der Sohn des Königs Laios, unwissend den Vater und heiratet anschließend dessen Frau, seine Mutter. Als er sich des Vatermordes und des inzestuösen Ehe bewusst wird, sticht er sich die Augen aus und erfindet mit der Selbstbestrafung das archetypische Bild der Kastration.

Kaum eine Figur eignet sich mehr, um die repressive Seite der Psychoanalyse zu beschreiben. Statt ihren Patienten ein Leben in der Welt zu erlauben, reduziert sie diese auf das ewige Dreieck von Mama-Papa-Kind. Sie spricht den ewigen Kindern die Möglichkeit ab, überhaupt etwas in der Wirklichkeit zu erkennen. Nein, auf ewig sehen sie nur Mama und Papa, die sie wahlweise beschlafen oder erschlagen sollen. Der Rest ist Selbsttäuschung, Illusion, Metapher oder Ersatzhandlung. Mit dem Moment unserer Zeugung ist man verdammt, das Familiendreieck zu bewohnen. Man kann es nicht mehr verlassen. Das lebendige Moment dieser Gefangenschaft ist der andauernde Fluchtversuch. Er wird in den Mehrwert getragen. Die pulsierenden Organe der Körper versorgen die Maschine. Etwas anderes will ihr Gefüge nicht.

Das losgelöste Delirium der Schizophrenen, welches für die mit der Maschine Verbundenen unerträglich ist, befindet sich hingegen ständig in Gefahr, abgeschaltet zu werden. Gilles Deleuze und Felix Guattari fragen im Anti-Ödipus, wie es gelingen kann, den hochvitalen, rasend schnellen Schizophrenen, den Menschen der reinen Intensität, in die autistischen Jammergestalten zu verwandeln, die durch die Kliniken geistern.

Wo wird das Leben verlangsamt?

Was der Anti-Ödipus versucht, ist die Dynamik zu beschreiben, mit der Psychoanalyse, Psychiatrie und Kapitalismus, die Lebens-Maschinen mit den Sinn- und Wertschöpfungs-Maschinen verspannen. „Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ist. Es scheißt, es fickt. Das Es… Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. …Was eintritt, sind Maschineneffekte, nicht Wirkungen von Metaphern“.

Die Promenade der Schizophrenen verkörpert das entlaufende Leben, die verwertende Maschine produziert den Drang zum Tod. Lebensenergie wird entführt, vom Sinn entleerte Maschinen laufen ins Freie. Die Schizophrenen sind die universellen Produzenten. Ihr übersteigertes Leben, ihre Geschwindigkeit wird mit den Wunschmaschinen durch die Organe verspannt, um ihre Produktivität als Mehrwert abzugreifen. Die Schizophrenen, die sich ihrer Menschmaschinen-Sein wirr bewusst sind, werden in die äußerste gesteigerte Form des Double Bind getrieben.

Der Anti-Ödipus ist der Versuch, kurz nach dem Scheitern des Mai 1968, den von den Verhältnissen eingeholten Aufstand, die Konfiguration des Revolutionären, neu zu erfinden. Die Phönix-Figur des Schizos, den oder die Deleuze und Guattari aus der Asche steigen lassen, mag übersteigert und heroisiert sein. Aber die Schizos laufen und hören nicht auf zu laufen. Die Flucht beginnt damit, den Double Bind zu verlassen.

In der doppelten Sackgasse halten die Psychoanalytiker dem Fliehenden vor: „Du willst doch nur mit deiner Mutter schlafen, und deshalb deinen Vater töten“. Der schlaue Schizo aber antwortet: „Nein, ich möchte lieber nicht. Ich möchte lieber eine Frau werden“. Der Analytiker, antwortet: „Ah, du denkst, dann würde dich die Wut deines Vaters weniger treffen?“. Der Schizo antwortet: „Nein, weil ich Gott werden möchte“. Dem Versuch, die Schizos auf eine Aussage festzulegen, sie an einen Sinn zu heften, um die Lebendigkeit mit der Produktion zu verbinden, entziehen diese sich, indem sie die Sprachen, die Bedeutungen, das, was Sinn machen könnte, ständig wechseln.

Von den Schizophrenen lernen heißt, ich setze mich nicht fest, besetze keinen Ort oder eine Haltung, bestehe nicht auf dem Recht. Sei es das, mit meiner Mutter schlafen zu dürfen oder in meiner Firma ein Mitspracherecht zu bekommen. Ich jammere nicht herum, dass der Vater, der Chef, die Gesellschaft, kein Recht haben, mich so abzuziehen.

Das Verfügen über die Menschen gelingt durch ihre Verführung zu der Annahme, die zu Verführenden litten an einem Mangel. Dabei gibt es diesen Mangel gar nicht. Er ist eine Erfindung derer, die sie verführen wollen. Eine Täuschung. Die kapitalistische Wertschöpfung entfremdet den Menschen ständig durch die Konstruktion eines Mangels. Die Suggestion dieses Mangels öffnet eine Kluft zwischen dem Überschuss an Leben und den Wünschen, die suggeriert werden. Er lockt die zum Mangel verdrehte Lebendigkeit in das Gefüge seiner Maschine. Wer eben noch begehrte, kippt ins paranoide Elend, ihm würde es an etwas fehlen. Die Schizos sollen endlich sagen, was sie wollen, damit sie angeschlossen werden können, durch ein fixierbares Begehren.

Als das Internet kam, wollten viele Frau oder Gott werden. Heute hat sich die heitere Lust an der Wandlung in die traurige Bitte um einen Gartenzaun gewandelt. Einen Zaun, mit dem das putzige Eigentum der Privatsphäre gewahrt werden könnte. Papa sitzt jetzt in einer dunklen Zentrale in Amerika und ist einer von vielen bösartigen Agenten. Diese würden versuchen, zwischen den Zeilen meiner E-Mails zu erkennen, dass mir, egal wie viel Mühe ich mir gebe, immer noch Fehlleistungen unterlaufen, die beweisen könnten, ich wolle mit meiner Mutter schlafen, so, als würde es mir daran mangeln.

Durch die Festlegung auf einen Mangel kann ich an die Produktivität angeschlossen werden. Die Illusion des Mangels lockt in die Falle, teilzunehmen, Teilhaber zu werden, dabei zu sein, mitzubestimmen, zu partizipieren, zu kommunizieren, auf mein Leben am Draht zu bestehen. Statt in die Falle des Mangels zu tappen, wechseln die Schizos aber in ein anderes Gesetz, einen anderen Code. Wenn Papa sagt: „Nein, du darfst nicht mit Mutti schlafen, oder nur einmal in Monat und dafür musst du dann auch Verantwortung übernehmen“, antwortet der Schizo: „Aber Papa, wovon redest du? Ich will doch Frau werden“. Das bringt Papa dann etwas durcheinander. Wie soll er einen Sohn, der gerade seine Tochter werden will, verbieten, mit der Mutter zu schlafen. Kaum hat Papa die Sache wieder im Griff, denn irgendwie mag er es ja, wenn Mama mit anderen Frauen knutscht, verwirrt das schizophrene Kind die Angelegenheit aufs Neue und sagt: „Papa, ich werde jetzt Gott“. Jetzt ist Papa mit den Nerven am Ende. Gott hat keine Mutter.

Gott hat auch keinen Vater. Wie soll der Vater dem Sohn, der Gott wird, verbieten, mit einer Mutter, die er nicht mehr hat, zu schlafen? Für Papa ist die Sache dumm gelaufen, auf Glatteis zerfällt sein Gesetz in Scherben. Eigentlich ist Papa schon gar nicht mehr da.

Deleuze und Guattari formen die Strategien der Flucht zum Bild einer Partisanengestalt, die aufgehört hat, ihre Lebendigkeit produktiv zu machen und in die Wertschöpfung hinein fließen zu lassen. Die Schizos spalten sich im Sinne des altgriechischen Schizo ab und verwandeln sich in hochgradig gestörte Wunschmaschinen. Ihre Haut wird zu einer glatten, straffen und dabei opaken Oberfläche. An ihr prallen die gesellschaftlichen Maschinen und ihre Verfolgungsapparate ab. In ihrem Panzer entledigen sich die Schizos ihrer Organe, dem was sie anschließbar werden lässt. Sie wandeln sich in organlose Körper.

Sie haben „keinen Mund. Keine Zunge. Keine Zähne. Keinen Kehlkopf. Keine Speiseröhre. Keinen Magen. Keinen Bauch. Keinen Hintern“. Organlos, nicht mehr anschließbar, wenden die Schizos ihre reine Intensität ins Unproduktive. Sie sind zu nichts mehr zu gebrauchen, befreite Linien auf der Flucht. Man kann das als Vermeidungsstrategie betrachten, aber sie macht immer noch mehr Spaß, als den Mangel zu halluzinieren, krank zu werden oder sich vernünftig, regelrecht sinnvoll zu beschleunigen. Nein, lieber irre schnell sein, mag das allein auch keine Lösung sein. Aber wenn es keine Lösung gibt, scheint es besser, Problem zu bleiben.

Literatur

Srnicek, Nick / Williams, Alex, #Accelerate. Manifest für eine akzelerationistische Politik, Berlin, 2013

Deleuze, Gilles / Guattari, Felix, Anti-Ödipus. Schizophrenie und Kapitalismus 1, Frankfurt am Main, 1977

Brief von Holger Meins, in: Bakker Schutt, Pieter H., das info. Briefe der Gefangenen aus der RAF 1973–1977, Ohne Ort, 1987

Lily Wittenburg für Hans-Christian Dany, Starship 12
Lily Wittenburg
Starship 12: Cover Ariane Müller, Henrik Olesen
  1. Cover Ariane Müller, Henrik Olesen
  2. A MAN WENT INTO THE DOCTOR'S OFFICE Karl Holmqvist
  3. Editorial Starship 12 Nikola Dietrich, Martin Ebner, Ariane Müller, Henrik Olesen
  4. * Gunter Reski
  5. Terminal + Nora Schultz
  6. Morgan Fisher Nikola Dietrich, Morgan Fisher
  7. Untitled, 2014 He-Ji Shin
  8. what am i doing here? David Antin
  9. 2014 Sam Pulitzer
  10. Trois Visages et deux Oiseaux Henrik Olesen, Christopher Müller
  11. from: The drumhead Gerry Bibby
  12. Houston, Houston, Do You Read? Mark von Schlegell
  13. Abstraction advancing backwards. Stephan Dillemuth
  14. Chinese Notebook Chris Kraus
  15. Ich werde Frau, ich werde Gott Hans-Christian Dany
  16. DIMM Memories of the Ruhr, 2014 Sam Lewitt
  17. aus: Performance im Rialto Annette Wehrmann
  18. Die Woche über oben üben Ulrich Heinke
  19. Gemüse mit Muskeln Gunter Reski
  20. Natural Law Haytham El-Wardany
  21. Partial observers: about senses in some scientific arguments Mikhail Lylov
  22. * Yusuf Etiman
  23. Le Temps retrouvé Francesca Drechsler
  24. Wir, die in den 1970er Jahren Geborenen Stephanie Fezer, Vera Tollmann
  25. Pastime with Mitchell Syrop or Life is just a Feeling Tenzing Barshee
  26. Annotations Starship
  27. Dear Aaton 35-8, Florian Zeyfang
  28. Très Riches Heures, Teil 2 Ariane Müller
  29. No Center for the Center Judith Hopf
  30. * Julian Göthe
  31. Mrs Cayenne Henrik Olesen
  32. Am kühlen Tisch Amelie von Wulffen
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