Wir, die in den 1970er Jahren Geborenen
Wir, die in den 1970er Jahren Geborenen, wuchsen mit dem mechanischen Geklapper von Schreibmaschinen auf, steckten als Kinder unsere Finger in eine Drehscheibe, wenn wir telefonieren wollten und hatten eine Briefpapiersammlung, die wir wie einen Schatz hüteten. Inzwischen besitzen wir zahlreiche digitale Dinge; andere, ganz klar, halten wir für eine „Verschmutzung der Psychosphäre“ (Franco Bifo Berardi).
Als Gilles Deleuze 1990 das „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ verfasste, erkannte er, dass wir von Rechnern nur noch in Zahlen erfasst werden: „Die Individuen sind ‚dividuell‘ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‚Banken‘.“ Und diese Daten sind was wert. Letzten Winter berichtete der Guardian anhand von Snowden-Files, dass private Webkameras vom britischen Geheimdienst als Datenquelle missbraucht worden waren. Das Geheimdienstprogramm mit dem bezeichnenden Codenamen „Optic Nerve“ speicherte Bilder aus Video-Chats und nutzte sie u.a. zur Verfeinerung von Face Recognition-Programmen.
Seit bekannt ist, wie massiv Geheimdienste wie die NSA, der CIA oder der britische GCHQ in Zusammenarbeit mit großen Internetkonzernen persönliche Daten sammeln, wird jedes (Selbst-)Porträt von einem leichten Unbehagen begleitet; das Uploaden dieser Bilder erst recht. Der Cloud überlassene Selfies verfeinern Algorithmen und damit auch – im Sinne von „Preventive Policing“ – das eigene (kriminelle) Profil.
In „Minority Report“ (Steven Spielberg 2002) sind es „Precogs“ wie Agatha, die, in fahles blaues Licht getaucht, Daten empfangen, auswerten und auf einen großen Bildschirm übertragen. Im Film hatte die Präkognitions-Software ein junges, unschuldiges Gesicht. Tatsächlich aber haben Datencenter und Algorithmen eben keine Benutzerschnittstelle, kein „human machine interface“.
Spielbergs „Minority Report“, der auf einer Philip K. Dick-Kurzgeschichte von 1956 basiert, spielt im Jahr 2054. Heute, vierzig Jahre zuvor, ist es klar, dass diese oder eine ähnliche Zukunft schon viel früher Gegenwart sein wird. Wie das enden kann, kann man am Schluss von Laura Poitras’ Dokumentarfilm „Citizenfour“ sehen, in dem sich Snowden und Investigativreporter Greenwald die brisanten Bälle ihrer Unterhaltung über Notizen auf dem Hotelbriefpapier zuspielen. Welches sie am Ende in kleine Fetzen reißen.
Um die Dystopien aus Literatur und Film nicht Wirklichkeit werden zu lassen, sind wir auf Selbstüberprüfung, Verschlüsselung und regelmäßiges Updaten der Software und ihrer Sicherheitseinstellungen angewiesen. Wie weit ist das Selbstbild noch selbstbestimmbar? Wie verhindert man es, dass man Teil des Codes wird?
Mae Holland wird beobachtet – ob sie arbeitet, ein Eis isst, ein privates Gespräch führt oder schläft. Sie ist nie allein. Mae, die Hauptfigur in Dave Eggers’ Roman „The Circle“ (2013) hat sich freiwillig für diese Transparenz zur Verfügung gestellt: Sie ist ein lebendes Modellprojekt, ein Neo-Profil, fast schon ein Avatar: Alles, was sie tut, wird in die Welt gesendet und dauerhaft aufgezeichnet. Sie kann sofort sehen, wie viele ihr zuschauen, ihr zuhören, und auf alles, was sie tut, bekommt sie sofort Rückmeldungen. Big Brother, das sind in „The Circle“ die User. Die Slogans ihrer Fima hat sie selber getextet und glaubt daran: „Geheimnisse sind Lügen“ und „Privacy ist Diebstahl“. Die permanente, überwiegend positive Bestätigung lässt Mae wie auf Droge sein: Sie schwebt auf Endorphinen.
Zum künstlerischen Material von Kate Cooper gehören vorprogrammierte Figuren bzw. Avatare, die auf Online-Charakteren basieren. Diese Figuren bringen ein ganzes Set an vordefinierten Formen der Repräsentation mit sich. „Schöne“ langhaarige junge Frauen zum Beispiel. Diese vorproduzierten Stereotype können immer weiter modifiziert werden. Cooper fragt sich, wie diese „perfekten“ Werbebilder bzw. Bildflächen gehackt werden könnten. Würden gebootlegte Versionen unserer selbst uns die Kontrolle über unsere Bilder zurückgeben können? Ihrem „Teenage Girl“ hat sie eine orthopädische Zahnspange verpasst – sollen doch die Code-Wesen stellvertretend unter Schönheitsidealen leiden. Wie wäre es, wenn die Quantencomputer ihre Algorithmen in Zukunft anhand dieser generischen Figuren spezifizieren würden? Dann blieben wir wirklich unerkannt.
In seinem Film „Her“ erzählt Spike Jonze, wie sich Liebe durch und mit Computerdaten rekonfiguriert. Es ist seine ganz eigene Interpretation von Tindr oder Romantimatic. Von Anfang bis Ende zeigt er nie ein Bild von „Samantha“, dem Betriebssystem, in das sich die Hauptfigur Theodore Twombly verliebt. Während die Allgegenwart von Bildern und das Sehvermögen von Computern diskutiert wird, setzt „Her“ auf Texte (handgeschriebene Briefe) und Stimmen (text to speech) als Transporter von Affekten. Was Roland Barthes schon über Maler und Namenspaten Cy Twombly und dessen kryptisch gekritzelte Gemälde schrieb, gilt auch für das Geschriebene in Jonzes Film. Dessen habhaft zu werden, ist schwierig: „Die Schrift von Twombly lässt sich entziffern, aber nicht interpretieren; mögen die Striche als solche auch präzise, abgesetzt sein; sie haben nichtsdestoweniger die Funktion, dieses Vage wiederzugeben, das Twombly in der Armee daran hinderte, ein guter Entzifferer militärischer Codes zu sein.” Die Leute in „Her“ scheinen allesamt fixiert auf ihre Geräte – wenn sie Kopfhörer tragen oder auf die Displays ihrer Smartphones starren. Das Subjekt ist bereits das „Superpanoptikum“, wie es der Medienwissenschaftler Mark Poster anhand von Datenbanken Mitte der Neunziger Jahre prophezeite.
Ickles, der / die titelgebende Protagonist / in von Mark von Schlegells neuester Veröffentlichung „Ickles, Etc.“, lebt in einer 80 bis 100 Jahre entfernten Zukunft, und er / sie / es kann sich nicht selber einschätzen – schreibt sein Autor, der bei einer Buchvorstellung auf Nachfrage mutmaßt, dass Ickles’ Mitmenschen wohl ähnlich entfremdet unterwegs sind. Die einzige Fußnote in der Erzählung definiert dieses Wesen und die Haltung seines Erzählers zu ihm: „Henries Ickles, your narrator and New Los Angeles’s least legendarily unknown info-architect, is without self-concept. The Ickles contained are therefore without any of the delusions adhering to the self. Ickles one and all seek to demonstrate the fact in the most adamant grammar. The buoy pronouns I, me, she, he, and sometimes even one, with which you would ordinarily expect the narrator to harpoon its very male hero, will not be found tailing any coherent referent in the following narrative.” Geschickt aus der Affäre gezogen, Autor wie Held.
Mary Scherpe wird überwacht. Sie hat einen Stalker, der ihre Bewegungen im Netz registriert – und darauf mit Kommentaren kommentiert. Mary Scherpe ist Bloggerin (stilinberlin); sie kann sich nicht aus dem Netz zurückziehen, ohne den Beruf zu wechseln. Die Dauerverfolgung machte sie dieses Jahr in einem Blog öffentlich, und im Herbst 2014 hat sie das Buch „An jedem einzelnen Tag. Mein Leben mit einem Stalker“ veröffentlicht. Scherpe glaubt, dass der Stalker ein Ex-Freund ist, u.a., weil er ihr Profil über Details kritisiert, die nur er kennen kann. Ihr Buch will Menschen Mut machen, die gestalkt werden, und Frauen darin bestärken, im Netz sichtbar zu bleiben und ihre Meinungen zu behaupten: „Auch wenn es sich hier um eine neue Technologie handelt, sind die Methoden, mit denen hier agiert wird, sehr alt. Es geht darum, Menschen und dabei, wie schon erwähnt, hauptsächlich Frauen zu beschämen und zu degradieren, um sie mundtot zu machen, zur Passivität zu verdammen oder zu vertreiben.“
„The Essay Written by the Unknown Ghost Writer from Ukraine“ nennt die Künstlerin Iryna Stasiuk ihren aus ein paar losen Blättern bestehenden Comic und liefert so gleich eine Inhaltsbeschreibung mit. Auf dem ersten Blatt steht zu lesen: „I write academic essays for American students. The company is owned by some Americans, while the workers are mostly Ukrainian students, who agree to write for $4 per page. A customer pays a higher price, but we do not know how much exactly, since the orders are delivered through the support office. The support is located in another building, and we never see them. Also, we’ve never seen the managers and chiefs; we don’t even know their names.” Stasiuk beschreibt kurze Momente ihrer Arbeitsroutine, das rigide System der Vermittlungsagentur, den Zeitdruck, die Zigarettenpausen. Unsichtbarer könnte Arbeit im kognitiven Kapitalismus kaum sein.
Texte und Quellen
Dave Eggers, The Circle, Penguin 2013
Kate Cooper, RIGGE, Kunst-Werke Berlin, Ausstellung 14. 09. 2014 bis 11. 01. 2015
Spike Jonze, Her, 2013, 126 Min.
Marc von Schlegell, Ickles, Etc., Sternberg Press 2014
Mary Scherpe, An jedem einzelnen Tag. Mein Leben mit einem Stalker, Lübbe 2014
Iryna Stasiuk, Essay, Zeichnungen und Text auf Papier, 2014