Das Licht ist so hell
Wie soll man sich schneller bewegen, wenn ständig von den lauernden Gefahren geredet wird? Angst produziert Angst und noch mehr Angst. Dabei möchte ich rasend schnell leben. Deshalb halte ich auch nichts von einer Ästhetik, wie sie der Akzelerationismus vorschlägt, wenn er behauptet, dass „eine wichtige Funktion von Kunst darin besteht, die Gefahren der Zukünftigkeit zu erforschen“ (Steven Sharvio). Warum sollte Kunst so etwas tun? Alle tun das und reden vom Klimawandel. Wie so viele, die meinen, wir leben in harten Zeiten, wollen auch die Akzelerationisten die Kunst aus ihrem unklar definierten Hinterhalt zerren, um ihr eine sinnvolle Aufgabe anzudienen.
Gleich kopfüber in den Schlamm der Apokalypse, als Bild der Welt ohne Menschen, stürzt sich der Akzelerationist Ray Brassair in Solare Katastrophe: Die Wahrheit der Auslöschung. Apokalypse heißt im Ursprung Schleier und den will Brassair dramatisch herunterreissen, um uns klar zu machen, dass wir es uns an einer Hand ausrechnen können: In 4,5 Milliarden Jahren wird die Sonne verloschen sein und alle klugen Tiere mussten sterben.
Oha! Und was ist dann?
Wie kommt man eigentlich darauf, es wäre interessant, die Dinge zu denken, wenn der Mensch nicht mehr wäre? Und warum muss das Problem der Überheblichkeit des Menschen durch eine Welt ohne Menschen gedacht werden? Gibt es nicht viel freundlichere Wege den Posthumanismus zu denken, und ist die Vision der Welt ohne Menschen nicht vor allem ein schaler Ausdruck männlicher Depression? Einsam geht der Held dahin, manchmal hält er noch ein Kind an der Hand, und wohin er blickt; absolute Verwüstung.
Einen Klassiker der Literarisierung selbstbezogener Melancholie verfasste der deutsche Herrenliterat Arno Schmidt, mit seiner Erzählung Schwarze Spiegel in den fünfziger Jahren, einer Hochzeit des Endzeit-Genres. Es ist noch einer der besseren Texte von Schmidt, geprägt vom Schock der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, von Auschwitz und Hiroshima. Doch selbst im Schatten totaler Vernichtung kann Schmidt seine verkorkste Geilheit kaum bändigen. Der mit müder Eleganz durch die Lüneburger Heide radelnde Held unterscheidet die Beckenknochen der Toten nach Geschlecht und beäugt lüstern die „Skelettdamen in schmierigen Autowracks.“ Das kaputte Phantasma handelt noch in erster Linie vom Menschen, statt eine Wirklichkeit zu imaginieren, in der der Mensch nur eine Seinsform von vielen ist. Oder sie handelt von einem menschlichen Blick auf die Natur, der sich meist überschätzt.
Vielversprechender als der Kitsch vom Ende scheint eine veränderte Lehre vom Sein, welche die Dinge ohne den Menschen respektiert – der Versuch eines Abschieds von jenem Menschen, der sich ständig der Monotropie hingibt, der alles, was sich zeigt, besetzt. Es geht um ein Wachstum der vom Menschen unbesetzten Möglichkeiten, eine Beschleunigung des Seins ohne den Menschen, um dessen ängstliche Kraftlosigkeit.
Kunst hingegen, jenes seltsame etwas, welches der Mensch lange für einen Ausdruck seiner Überlegenheit hielt, lässt sich in dieser Hinsicht von den Füßen auf den Kopf stellen, und könnte als Versuchsfeld einer posthumanen Ethik dienen.
„Wir bringen euch die Mathematik eines anderen Schicksals“, singt Sun Ra. Meint er damit, bei der Zukunft, in der alles anders sein wird, handle es sich um ein mathematisches Problem? Mag sein, wie Einstein einmal meinte, dass Gott nicht gewürfelt hat, als er die Welt erschuf. Doch beim ersten überlieferten Würfelspiel ging es um die Aufteilung des Weltalls. Poseidon gewann zufällig die Meere, Hades die Unterwelt und Zeus die Erde und den Himmel. Gott musste wahrscheinlich erst viele werden, um zu verstehen, dass einem die Zukunft nur zufallen kann.
„Die Zukunft ist ein Unfall“, behauptet der Autor der Theorie-Fiktion des Black Atlantic, Kodwo Eshun. Welcher Unterschied ergibt sich aus Zu- und Unfall? Beim Unfall denke ich an einen Schaden. Der Zufall verbindet sich leichter mit Glück. In beiden Fällen folgt der Wandel einem Kontrollverlust, den der Mensch nicht aufhalten konnte. Die Veränderung stellt sich durch eine Art Fehler ein, den das auf Erhalt Geeichte nicht anerkennen wollte. Ich hatte etwas übersehen, weil ich es nicht kannte. Eine unbekannte Zukunft kann nicht bekannt sein, sonst wäre sie ja nur eine Wiederholung. Deshalb gibt es kein Zurück in die Zukunft, außer bei der technischen Kehre, die sich im Kreis dreht.
In Heller als die Sonne schreibt Eshun eine Geschichte der flexiblen Taktiken des Afrofuturismus. Eine treibende Bewegung bildet dabei die Transformation Sun Ras in einen Außerirdischen. Sich in ein nicht-menschliches Wesen zu verwandeln erlaubt es Ra, seine Wurzeln zu kappen und die falsche Wirklichkeit der Welt zu verlassen. Er wird ein Alien vom Saturn und tritt die Reise ins Unbekannte an. Als ehemaliger Mensch flieht er aus dem, was wenig mehr als Unterdrückung versprach. Als Außerirdischer entgleitet er der humanistischen Umlaufbahn. Die Flucht aus ihren Gefängnissen erlaubt Ra die Reise in eine unbekannte Zukunft. Als posthumanistisches Wesen hat er sich in ein Instrument verwandelt. Was ein Ich war, ist nun viele Apparate, „die schrittweise die Raumzeit-Materie als Teil der fortlaufenden Kraft des Werdens rekonfigurieren“, wie Karen Barat die Dynamik der Wandlung beschreiben würde.
Ra erkennt die gegebene Ordnung seiner Umgebung nicht mehr an. Er spielt in ihr sein eigenes Spiel. Er tritt hinüber in eine andere Wirklichkeit. Er lebt nicht mehr in den USA, sondern auf dem Saturn. Er wehrt sich nicht als Anti-Humanist, sondern verlässt die Ordnung. Er versucht nicht, souverän und damit abweisend gegenüber der zufälligen Zukunft zu bleiben, sondern gibt sich dem Ausnahmezustand hin, öffnet sich dem Unkontrollierbaren und reist durch die Strömungen von tausend Zufällen in ein unbekanntes Raum-Zeit-Kontinuum. Sein Raumgleiter ist zum Nichtmenschlichen offen. Gemeinsam mit dem Intergalactic Solar Arkestra stürzt er sich in die „Mathemagie“ (Eshun) zahlloser Zufallsalgorithmen und verwendet den Homöostaten als durch den Raum treibende Lustmaschine, welche die kartierten Sicherheitszonen der weißen Dunkelheit verlässt.
Die Klänge, die einen in die Zukunft tragen könnten, lassen sich nicht aus der Maschine heraushören, wenn man sich zu ihr quer stellt und Widerstand gegen sie leistet. Der widerständische Mensch hört sich dabei vor allem selbst. Die sonische Passage in ein unbekanntes Morgen, wird aber auch in einer ungebrochenen Bejahung der technologischen Apparate nicht mehr hörbar. Eine solche Affirmation mag einmal wirksam gewesen sein, verlor sich aber schon am Ende des Jahrhunderts in den bereinigten Variationen der Warenform, die kein Staubkorn mehr in sich aufnehmen.
Wenn der Mensch durch die Maschine in Bewegung versetzt wird, muss etwas von Außen eindringen, was sich der Mensch als Maschine und die Maschine als Mensch nicht vorstellen können. Das posthumanistische Wesen muss als Maschine nach dem Unmöglichen streben oder wie Sun Ra es formuliert: „Das Unmögliche zieht mich an, denn alles Mögliche ist schon gemacht worden, und die Welt hat sich nicht verändert“. Die Maschine, die nur das Mögliche kennt, jenes technologische Wesen, das die Ungewissheit ablehnt, wird dadurch verunreinigt und kann sich verwandeln. Was sich im Afrofuturismus anlegte, könnte sich mit einem Verständnis des Posthumanismus weiterentwickeln, wie es Karen Barat für die theoretische Physik formulierte:
„Der Posthumanismus setzt nicht voraus, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. Er ist kein Gefangener des Größenmaßstabs des Menschlichen, sondern schenkt den Praktiken Aufmerksamkeit, durch die Maßstäbe produziert werden. Der Posthumanismus hat nichts übrig für die prinzipielle Behauptung, die die Abschaffung oder den Tod der Metaphysik annehmen, besonders wenn solche hochmütigen Behauptungen sich als Lockmittel für die heimliche Wiedereinrichtung des Menschen als des Maßstabes dessen erweisen, was beobachtbar und verstehbar ist oder nicht. Er gehorcht keinen Verboten gegen die Rede von der Ontologie, wodurch jegliches Nachdenken auf das Erkenntnistheoretische beschränkt werden soll, das im sicheren Hafen des Menschen verankert ist“.
Die Messinstrumente treten durch ihn ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zu ihnen gehören auch die Instrumente, mit denen das Nichts vermessen werden könnte. Die Abwendung von den endlosen Wiederspiegelungen erlaubt den Luxus, ins Dunkel zu gehen, so wie Sun Ra sang: „I am an instrument“.
Auf das Außermenschliche oder eine posthumanistische Gesellschaft zuzugehen muss nicht bedeuten, sich auf das Nichts zuzubewegen. Es lässt sich in dessen Lücken nisten, um das Nichts zu denken, in dem man aufhört zu denken. Man hört auf und widmet dem Unbestimmten Zeit und gibt ihm seinen Körper, als gäbe es nichts zu verlieren. Das Ich verzichtet auf das, was es kennt, um zu sehen, was sich mein Denken nicht vorstellen kann. Das Ich verzichtet auf sich selbst. Es öffnet sich, auch auf die Gefahr hin, darin fremd zu bleiben. Nichts wird sein, wie es war.