Die Morschen
Und es sagten die Morschen, sie sorgten sich so um den Zustand der Apokalyptik. Auch glaubten die Morschen, die Station nie wieder verlassen zu können. Es dröhnten Kampfflieger darüber. Morgens traten sie verwirrt und betört in den Duft blühender Bäume, worüber weiß ein Himmel wartete ewige Zeit. Ihnen war bang. Es stand ihnen der Sinn nach einer Verzweiflung, die lange nicht kam. Höre du das Keckern. Höre, wie es wiedereintritt in die Atmosphäre. Öffnen sich jetzt die Böden? Dieses Keckern! Die Morschen erhofften ein Ende, eines von oben, eines von unten. Das war sich einstweilen gleich.
Apokalyptische Splitter – ob du dich jemals davon erholst, ist unklar. Deine Zunge ist vergiftet, meinen die Morschen. Spuck sie aus! Denn unbehaglich und fremd ist ihr Geschmack. Zudem spricht sie dunkel und hetzt die Morschen gegeneinander auf. Das Falsche hat sie enthüllt. Silbe für Silbe denke den Satz: Ich sorge mich so um den Zustand der Apokalyptik. Noch ist sie nicht untergegangen. Die Morschen aber sagen: Sorgt euch nicht. Nicht um den Zustand der Apokalyptik. Sie wird schon bald zugrunde gehen.
In der Progression kulminiert die Krise. Warum wir das nicht mehr sehen, fragen sich die Morschen. Viel deutlicher hatte sich die apokalyptische Energie eines ungehemmten Kapitalismus noch vor einigen Jahren gezeigt. Es ist ja nicht so, dass die Verhältnisse, in denen die Morschen bezüglich der Dinge, ihres Ablaufs, der Räume, ihrer Leugnung, des Zustands und seiner Verschlimmerung gehalten sind, sich verbessert hätten. Nur sehen die Morschen sie nicht mehr so deutlich in ihrem Verlauf, oder haben das Interesse an alles überwölbenden Narrationen in jenem Bereich gar gänzlich verloren. Kaum vorstellbar. Was erzählt man sich denn, in den Medien. Medien, das sind die Knochen. Sie laufen durchs Mark, sie tönen und nehmen sich keine Pause.
„Schon jetzt bewegt sich die Welt durch unaufhörliche Konflikte auf einen konfliktlosen Zustand zu. Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden der höchste Gott und seine übernatürlichen Verbündeten die Kräfte des Chaos und ihre morschen Verbündeten in einem gewaltigen Endkampf besiegen und ein für alle mal vernichten.“1 Raumzeitliche Zersplitterung verunmöglicht die Systematisierung des fortlaufend Katastrophischen. Aber es fehlt der utopisch-eschatologische Gehalt. Die Idee, dass nach der schlimmsten Verschlimmerung schließlich etwas Besseres folgt, ist schwach.
„Und der Tod wird nicht mehr sein (..) Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu.“ Du musst hinausgehen und glaubst nicht, dass du das kannst, mutmaßen die Morschen. Schon hörst du Stimmen. Akzente. Es schreien die Raben. Vertautes. Nimm es vom Netz. Nimm dich und alle anderen, nimm sie vom Netz. Schauplätze der Gewalt. Hier bleibt es still. Allen Mattarten unerotisch erliegen, in eine Härte, der nichts mehr zukommt. Treu wie ein Hund.
Marmorierte Gefilde ersetzen die Verben. Die Blütenkessel mit ihrem Duft. Durchzogen von alternativen Sprachgemeinschaften mit einem Hang zu imaginären Kollektiven – an der Grenze zur Verwirklichung brandete etwas auf wie Verlangen. Schaum oder Applaus. O, wieder ein Flieger: Vor allem üben diese Flieger am Sonntag, mit ihren frommen Piloten. Wegknallen der Waage. Es retten sich Raben. Freilich umwirkt das Neue stets der Gesang der Apokalyptik, enthüllt sie. „Er äußert sich in der Vorstellung, dass Himmel und Erde, Raum und Zeit vergehen müssen, um dem neuen Himmel und der neuen Erde Platz zu machen.“2
Die Morschen verstehen sich auf die magische Neueinspielung vergangener Räume, ohne sie zuvor auf irgendeine Weise gespeichert zu haben. Wie geht es weiter. Was wird dir der Kalender verschweigen. Die Augen der Morschen sind müde. Auf dem Hauptbahnhof Düsseldorf herrscht eine beklemmende Ruhe. Sicher stand die Apokalypse unmittelbar bevor. Verkleidete Mädchen. Sie flanierten durch die Einkaufspassage, auf die hinab von den Bahnsteigen alle Treppen mündeten, in phantastischen Kostümen. Sie hatten sich merkwürdig angetan, trugen eindeutige Insignien und meist waren die Haare sehr verlängert. Die Passage aber war unumgänglich. Das heißt, das Gericht ist nun nicht mehr aufzuhalten. Das Leitsystem ist erstellt. Die Gleise sind nicht zu betreten. Bald sind die Morschen alle eingefroren, auf detaillierte Weise bilden sie ein ausgepreistes Sortiment.
„Denn in die Brust schneid ich mir eine Wunde / die reiz ich stets mit Nadeln, halte stets / Sie offen, dass es mir recht sinnlich bleibe“, schreibt Kleist – und stellt damit gleichfalls das galvanische Reizexperiment dar. Sowohl Ritter als auch Humboldt „schließen ihren Körper an einen Stromkreis an und beobachten dabei Empfindung und Gegenempfindung der mit einem Plus und einem Minuspol verbundenen Organteile zum Beweis des Polaritätsprinzips. Ritter galvanisierte sogar die eigenen Augäpfel, bis er glaubte, in der Extremisierung einer Empfindung den Umschlag in die Gegenempfindung zu erleben, was der Beweis für die Hoffnung aller romantischen Naturphilosophie von der in den Gegensätzen verborgenen Einheit gewesen wäre.“3 Super.
Der krypto-idyllische Satellit emittiert schamanische Energien, Zeichen auf Bäumen, den Abstieg Freiburgs, Felder, die unbestellt bleiben, irgendwelche Brennmeister mit offenen Hemden, schlechtem Atem und eingefärbtem Schotter zu sehr hohem Preis. Solche Rituale gab es. Berichte von dem Mann mit dem Gepäck wurden bekannt. Es war ein Stecker daran. Tausend Jahre, wie im Flug vergangen. Die nächsten tausend Jahre folgten. Das Ideologem der Zahl 1000 geht übrigens auf die persische Eschatologie zurück, auf Zoroaster, um die 2000 vor Christus. Und fand von dort aus Eingang in viele fieberhafte Numerologien. Dem Zoroastrismus entstammt auch die Idee der finalen Schlacht: Gog gegen Magog – die Vollendung der Zeit. Wir wissen nichts über das nächste Jahrtausend, hatte Freud in etwa gesagt, außer dass wir darin sterben werden. Den Morschen ist schlecht. Dennoch filmen sie die Einfahrt des Zuges.
Der Mann mit dem großen Gepäck ist eine zentrale mythologische Figur. Wo immer ich ein Paradies installiere, wird es die Geschichte der Entfernung von ihm geben, der Distanznahme, des Niedergangs. Was dazwischen liegt, muss, wenn ich in das Paradies zurückkehre, revidiert werden.
Wer mich sieht, hat den Vater gesehen. Der Wortsinn des Begriffes Apokalypse ist Entschleierung, oder auch: Enthüllung. Daher auch die Übersetzung als Offenbarung. Achten Sie bitte auf den Unterschied zwischen Offenbarung und Beschreibung, wenn es einer ist. All dies wird erstmals einem Irdischen enthüllt. Die Gegenwart erscheint als letzte Zeit. Es handelt sich nicht um eine besondere Gattung, sondern den theonymen Ursprung einer in Verzückung wahrgenommenen Selbstmitteilung des himmlischen Erlösers, lesen die Morschen in einer apokalyptischen Blütenlese. Im judeo-christlichen Zusammenhang brach eine Hochzeit der Apokalyptik 300 vor Christus an, und blieb etwa 600 Jahre sehr rege. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert wird die Offenbarung so häufig angeführt wie kein anderes Buch. Das Buch ist in einem leicht agrammatischen, semitisierenden Griechisch gehalten, es wird dem Apostel Johannes zugeschrieben, was dem Vernehmen nach nicht korrekt ist.
Es gibt immer wieder Hochphasen des Apokalyptischen, oder das Vorherrschen einer apokalyptischen Spannung, wie die Premillenial Tension in den Universitäten des Jahres 1999, die marxistisch-leninistische Gruppe in Bochum um 1990, Religionsphilosophen zwischen den beiden Weltkriegen, die endgültige Wiederherstellung, der Islamische Staat, der Fortschrittsfuror des asiatischen Kapitalismus respektive Kommunismus, mit der Bibelübersetzung im 17. Jahrhundert beobachten wir eine enorme Zunahme der Laienauslegung von apokalyptischen Texten, es öffneten sich die Schleusentore, man denke an die leidensmystische Endzeitbewegung um Thomas Müntzer, an die Wiedertäufer in Münster zwischen 1534 und 1535, den paranoiden Politikstil der Reagan-Administration, die Aumsekte im Japan der 90er Jahre, an die Branch Davidians 1993 in Waco, Texas, wo der Ausgang eines Auslegungswettstreits einiger Passagen Johannesoffenbarung, der zwischen dem verbarrikadierten Sektenführer und einigen Bibelwissenschaftlern ausgebrochen war, nicht abgewartet wurde. (In the New World, there will be no tax.)
Der Mann mit dem großen Gepäck, der den Morschen das Ende der Welt verkündet, macht seinen Zuhörern eines klar: Nichtverstehen ist identisch mit vernichtet werden. Die Zeit ist nah. Und alle Gleichnisse handeln vom Ende. Die Kirche als eine Institution, die zur Sicherung des eigenen Fortbestands auf Dauer zielt, war gehalten, die panischen Anteile der Apokalypse klein zu halten. Als Heilsanstalt, nicht als Treuhand zur Abwicklung der Welt. Kennst du das Gleichnis mit den versinkenden Tieren? Im Wechselspiel. In einen Feuersee geworfen. (Meine eigenste Angst vor der durchlässigen Wand und dem brennenden Fluss.) Eines aber ist klar: Nichtverstehen ist identisch mit vernichtet werden. Alle Mattarten. In anderer Abfolge. Es gilt nach wie vor: die messianische Schablone.
1 Irgendein Buch. Ich habe jetzt keine Zeit dem nachzugehen. Die Wohnung ist zerlegt.
2 Philipp Vielhauer: Apokalypsen und Verwandtes. In: Apokalyptik, herausgegeben von Klaus Koch und Johann Michael Schmidt. WBD, 1982.
3 So Blamberger in seiner Kleistbiografie.