Die Treppen der CUJAE
Man befindet sich ständig im Schatten, unter den auf Pfeilern stehenden Gebäuden der CUJAE. In den Gängen, an Ecken, auf und neben den Bänken und auf Treppenstufen versammeln sich jene Studierenden, die gerade nicht von einer Unterrichtseinheit zur anderen eilen. Dazwischen Angestellte, meist in gestenreichen Gesprächen einander umkreisend. Vereinzelt finden sich in ihre Laptops vertiefte Gestalten, die den Wegen lieber den Rücken zukehren. Ausufernde Vegetation säumt die Treppenaufgänge, die die verschiedenen Ebenen miteinander verbinden. Von diesen Ebenen aufstrebend erschließen die Aufgänge die Gebäude: Dem Zugang zu einem Raumschiff vergleichbar, queren die Treppen in einem Winkel von 45 Grad das freiliegende Erdgeschoss, um dann im Bauch des Gebäudes zu verschwinden. Sie setzen sich über die Stockwerke fort bis hin zu den Lehrräumen.
Die Bauten der Ciudad Universitaria José Antonio Echeverria (CUJAE) sind eines der drei „proyectos grandes“, mit welchen die kubanische Revolution Anfang der 1960er Jahre gleichzeitig die Strategien im Wohnungsbau, in der Ausbildung und in der Wirtschaftlichkeit des Bauens neu ausrichten wollte. Habana del Este, später Ciudad Camilo Cienfuegos genannt, begonnen 1959 als das älteste der drei „großen Projekte“, lieferte dem revolutionären Regime den Beweis, dass man in großem Maßstab Wohnungen bauen konnte. Die Slums des Batista Regimes sollten der Vergangenheit angehören. In der Folge entstanden viele weitere Wohnsiedlungen, die zumeist jedoch nicht mehr die Komplexität und planungstechnische Finesse der Bauten von „Wohneinheit 1“, wie Habana del Este auch genannt wurde, erreichten. Ebenfalls im Jahr 1959, als kleinstes der drei Bauvorhaben, wurden die berühmten Kunsthochschulen begonnen (Las Escuelas Nacionales de Arte, ENA), jedoch bis dato nicht beendet; die Arbeiten wurden im Jahr 1965 eingestellt. Von den fünf geplanten Schulen werden heute jene für plastische Kunst, wie auch die Schule für modernen Tanz, beide entworfen von Ricardo Porro, für die Ausbildung genutzt. Die Theaterschule von Roberto Garatti und die beiden von Vittorio Garatti entworfenen Schulen für Ballett und Musik stehen, jeweils in unterschiedlichen Fertigungsstadien, leer.
Spätestens seit John A. Loomis die Kunsthochschulen in seinem 1999 erschienenen Buch „Revolution of Forms“ beschrieben hat, wird die Architektur der ENA als einer der wichtigen architektonischen Entwürfe Kubas gefeiert. Dem voran gingen Initiativen innerhalb Kubas, die seit den mittleren 1980er Jahren für eine Restaurierung warben. Der Komplex der ENA steht für die immer weiter fortzuführende Suche nach einer Architektur, die auf die extremen Witterungsbedingungen Kubas antworten kann. Sie standen außerdem, symbolhaft von ihrer Lage auf dem ehemaligen Country Club bis hin zu ihrer Nicht-Vollendung, für den Versuch des Umbaus einer segregierten Gesellschaft in eine Gemeinschaft, die allen ihren Mitgliedern eine umfassende Ausbildung anbieten kann. Das vorzeitige Ende der anspruchsvollen Baumaßnahmen vor fünfzig Jahren wurde, so heißt es, mit ideologischem Vokabular unterlegt: das Design der Schulen wäre inkompatibel mit der Revolution. Tatsächlich standen wohl eher wirtschaftliche Gründe dahinter, die Priorisierung der Wohnbaupläne und eine breiter angelegte Ausbildungspolitik. Dafür brauchte es größere und schneller zu errichtende, dabei preiswertere Bauten.
Die CUJAE wurde erst 1964 als drittes der drei Großprojekte in Angriff genommen. Die Architektur dieses Instituts, in dem Ingenieurswissenschaften und Architektur gelehrt werden, suchte ganz andere und eher nüchterne Antworten auf die Aufgabenstellung der Stunde als die ENA. Zunächst wurde die CUJAE nicht von Fidel und Che auf einem Golfgelände erdacht, wie das bei den Kunstschulen der Fall war – darüber haben sich schon die drei Künstler von Los Carpinteros, die ebenda studiert hatten, in einer Arbeit amüsiert –, sondern in den Planungsgremien.
Architektonisch wurden die Gebäude der CUJAE nicht wie im Fall der ENA mit Ziegelsteinen nach dem Prinzip des „katalanischen Gewölbes“, sondern von Humberto Alonso (Architekt des Lamas Haus, s. Starship 13), Fernando Salinas und José Fernandez durchgehend in Fertigbauweise geplant. Und im Gegensatz zur ENA wurde die CUJAE fertiggestellt. Sie dient seitdem als Paradebeispiel post-revolutionären Bauens in Kuba, und dies je nach Ausrichtung der Betrachtenden in positiver oder negativer Auslegung.
1964 hatte sich in Kubas Architekturpolitik die Haltung durchgesetzt, dass Prä-Fabrikation und Systembau für die immensen Aufgaben im Wohnungs- und Bildungsbereich die Mittel der Wahl wären. Mit der CUJAE entwarfen Alonso, Salinas und Fernandez ein Beispiel, wie diese Mittel eloquent und effektiv eingesetzt werden konnten. Die auf eine raue Art eleganten Bauten antworteten auf die zu der Zeit in Europa diskutierte „brutalistische“ Architektur von Allison und Peter Smithson z.B. und erweiterten sie mit Elementen, die als Reaktion auf das tropische Klima formuliert wurden. Die Klassenräume in den schmalen, hochaufragenden Gebäuden werden zum Teil von außen erschlossen, sie sind durch Querventilation belüftet und verfügen über Sonnen-Deflektoren. Die erwähnten Laufwege unter den Gebäuden bilden eine eigene kommunikative Verbindungsebene und Schutz sowohl vor der Sonne, als auch vor den heftigen Regenfällen.
In der Folge wurden die beim Bau der CUJAE gewonnen architektonischen Erkenntnisse auf zahllose Schulgebäude übertragen, wenn auch nicht mehr in der hier erreichten detailplanerischen Qualität: In den 1970er Jahren begann Kuba mit der Nueva escuela en el campo, den Schulen auf dem Land, einem Programm, das Landjugendliche und StadtschülerInnen in denselben Institutionen betreuen wollte (einschließlich des Arbeitseinsatzes auf dem Acker, nicht immer zur Freude der Beteiligten). Fast alle diese Schulen sind, wie die CUJAE, langestreckte Gebäude und auf Säulen aufgeständert. Auch das Programmatische dieser Schulen ist in der CUJAE bereits angelegt: Man hatte das polytechnische Institut am Stadtrand Havannas erbaut, um bereits hier die Verbindung zum Land planungstechnisch wie symbolisch herzustellen.
Die Kunsthochschulen der ENA und die technische Hochschule CUJAE wurden als verschiedene Teile der „proyectos grandes“, von verschieden Initiatoren und Beteiligten und unter Einbeziehung unterschiedlicher Gegebenheiten entworfen, waren aber Teil eines gemeinsamen Plans. Fünfzig Jahre später stehen sie einander fast wie Antagonisten gegenüber. Die utopische, langwierige, aufwändige Ausformung des Masterplans in den Ziegelbauten der ENA blieb bis dato unvollendet und bietet so einen maximalen Raum für Projektionen auf die kurze, euphorische Phase direkt nach der Revolution.
Die pragmatischen, schneller und günstiger zu realisierenden Zweckbauten der CUJAE entstanden in der Zeit kurz danach, als auf die Grundversorgung aller Bevölkerungsschichten hin geplant wurde. Beiden Bauvorhaben jedoch ist das Versprechen auf umfassende Bildungsmöglichkeiten eingeschrieben.
Postscriptum: 50 Jahre nach dem Baustopp der ENA, hoffen deren inzwischen knapp 90-jährige Architekten auf die Fortführung ihres Teils dieses Projektes, für das sie Ende der 1950er Jahre aus Italien über Venezuela nach Kuba gekommen waren. Roberto Gottardi erhielt zuletzt eine nicht unansehnliche Summe vom italienischen Staat für die architektonische Weiterentwicklung seine Theaterschule innerhalb der ENA. Und Vittorio Garatti fliegt Anfang 2016 nach Kuba, um zusammen mit dem Autor John A. Loomis und anderen auf die Fertigstellung seiner Musikschule zu drängen. In einem Gespräch kurz vor seinem Abflug gibt er der Hoffnung Ausdruck, nicht die Republikaner, sondern die Demokraten mögen die kommende Wahl in den USA gewinnen: Ohne die Aufhebung des Embargos erscheint ihm die Fertigstellung kaum realisierbar.
Florian Zeyfang is a Berlin based artist, filmmaker, and writer. He is a regular contributor to Starship since 1998. His text originates from an ongoing research, conducted together with Lisa Schmidt-Colinet and Alexander Schmoeger, which focuses on modernism, its specific conditions in Cuba and its architectural and social representation. See: www.pabelloncuba.com