Das Absolute genießen
Heute genieße ich die Welt hinter dem Vorhang. Durch einen Spalt fließt Sonnenlicht in meine dunkle Kammer. Ich liege auf dem Bett und betrachte auf meinem Telefon die Instagram-Strecke von Lotta Volkova Adam. Die in Paris lebende Stylistin gestaltet für Vetements oder Gosha Rubchinsky Atmosphären, die aussehen, als hätten sich Throbbing Gristle in das Computerspiel Grand Theft Auto verirrt und würden auf eine Orgie warten, die nicht stattfindet. In ausladenden Mänteln von Phantasieuniformen wandern steife Gestalten souverän verstört durch überbelichtete Science-Fiction Landschaften und begegnen dem geschmacklosen Grün deutscher Polizei-Sweatshirts. Fließend bewegt sich die 32-jährige vor und hinter der Kamera einer behaupteten Kollektivität in verzerrten Körpern. Was sich im Kaleidoskop dieses Stroms der Bilder zusammensetzt trifft gerade viele Sehnsüchte. Gelingt dies, weil die Atmosphären aus einer anderen Zeit kommen, die das Jetzt streift, dabei aber so präzise schneidet, als handle es sich um eine Zellteilung? Auf der Projektionsfläche, die sich den Begehren anbietet, vermählt sich eine antiseptische, gleichzeitig schmutzige Lust nach einem wilden, wie disziplinierten Leben vor den Kulissen der fahlen Versprechen des Westens, in denen noch irgendetwas leuchtet, mag man auch nicht wissen was. All das bleibt im Inneren leer und entwickelt so eine Anziehungkraft, die weder vor der sexuellen Wirkmacht des Debilen, noch dem Hässlichen zurückschreckt. Am Abend trinkt „the coolest stylist in the industry“ (Vogue) auf die melancholische Erotik harter Arbeit und schreibt Sätze wie, „vodka is just fun water“. Und erzählt am nächsten Morgen stolz im TzK-Gespräch, bei Balenciaga seien die Mitarbeiter vor den Schauen seit dreißig Jahren nicht mehr so pünktlich nach Hause gegangen, es sei halt die russische Art, schnell zur Sache zu kommen. Klischees bilden die Schnittkanten, aus denen sich Figuren lösen, von denen man glaubt, sie noch nicht gesehen zu haben.
Im Juli begann die verführerische, vielfach gebrochene Neuauflage des ‘work hard, play hard’-Themas und der unerschöpflichen Überschüsse ein wenig zu lahmen. Anfang August packte Adam ihren goldenen Koffer und fuhr wie alle Pariser in den Urlaub. Seitdem gibt es Bilder von Pools, amerikanischen Landschaften oder aufregenden Menschen. Am Ende ging der Koffer, es war ein wenig zu erwarten, vor den 65tausend Zuschauern der Serie verloren.
Den Merve Band 438 mit dem Titel Absolute Gegenwart lese ich nicht nur, weil 8 meine Lieblingszahl ist, sondern da er trotz des absehbaren, aber sehr anziehenden Titels nach Veränderung riecht, vielleicht weil ein knalliges Rot dies behauptet. Zuletzt hatte sich die Serie, der ich seit Jahrzehnten die Treue halte, beschieden, ausgedachte Wörter auf die Dächer von Gedankengebäuden zu werfen, deren dünne Wände darunter einknickten. Das konnte unterhaltsam sein, aber ab einem bestimmten Punkt benahmen sich die Werfenden immer absehbarer. Man konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, sie rechneten schon im Moment des Wurfs mit dem Zusammenbruch, weil sie ja einen weiteren Begriff aufs das nächste Dach werfen konnten. Absehbarkeit verführt nicht. Jene Balance zwischen dem Vertrauen, das man in einen Seriendarsteller haben möchte und dem Wunsch, von ihm überrascht zu werden, kippte auf eine Seite, wo die Wippe hängenblieb. Aber nun trat diese unbeschriebene Figur aus der Kulisse. Der 25-jährige Marcus Quent zeichnet mit flottem Strich ein Panorama der absoluten Gegenwart und behauptet gleich auf Seite 1, dass sich „die Intervalle von Moden, Trends und Hypes weiter verkürzen“. Die Behauptung hört man öfter und sie klingt mit geschlossenen Augen oder in einem Seminarsaal auch ganz plausibel. Doch sobald man auf die Straße geht, fällt einem auf, wie lange sich Moden verlängern. Das Comeback der Bomberjacken hält schon seit über fünf Jahren an und selbst Vetements schlägt sie noch vor. In der Vergangenheit wären so lange Intervalle eine unvorstellbare Überdehnung gewesen. Auch was auf der Straße getragen wird, wehrt sich gegen den Wechsel. Das durch einen Riss in schwarzen Jeans gezeigte Knie geht schon eine kleine Ewigkeit über die Zebrastreifen und hört nicht auf damit. Ein Turnschuh wie der Jordan kommt sowieso nicht aus der Mode und wird jedes Jahr wiederentdeckt. Nur hemmungslos altmodische Menschen scheinen noch auf schnelle ‚Hypes‘ zu hoffen, die ansonsten kaum noch jemand braucht. Wofür es reicht sind gerade mal Mikro-trends, wie der weiße Socke zur Sandale, die getrost vernachlässigt werden können. Immer noch auf dem Bett liegend, frage ich mich, ob ‚Moden, Trends und Hypes‘ inzwischen viel länger halten, weil sie verstärkt andere Bedürfnisse befriedigen und auf verschobene Widerstände reagieren? Bis ungefähr Anfang des Jahrtausends diente Mode oft einer Absetzungsbewegung, durch die sich ihre Träger unterscheiden wollten. Die Erfinder eines Trends schmeichelten sich, indem sie sich modisch weit vorne glaubten und von den anderen unterschieden. Dieses Spiel eines Sprungs aus dem Hauptstrom nach vorne mag nicht gänzlich verschwunden sein, es spielt mittlerweile aber eine nachgeordnete Rolle. Sich zu unterscheiden wirkt aus verschiedenen Gründen nicht mehr so attraktiv. In der kybernetischen Kontrollgesellschaft sollen alle sagen, wo sie gerade stehen. Wer durch seine Erscheinung Auskunft über sich gibt, bewegt sich mit vorauseilendem Gehorsam, da die angeordnete Positionierung durch zur Schau getragene Differenz hervorgehoben wird. Die Verfeinerung einer nach außen gekehrten Subjektivität vereinfacht die Steuerung. Wenn alle immer ähnlicher und unauffälliger aussehen, ist die Anonymität der Masse hingegen schwerer zu durchleuchten. Die Lust am Unterschied wurde zudem, was die Gruppe K-Hole mit ihrem Normcore-Papier bereits vor drei Jahren beschrieben hat, Teil einer Produktivität, die dabei meist nicht einmal bezahlt wird. Es lohnt sich nicht, extrovertiert erfinderisch mit der eigenen Subjektivität umzugehen, wenn der eigene Überschuss dadurch zum unbezahlten Lieferanten der wertschöpfenden Interessen Dritter wird. Einen Trend zu erfinden oder etwas in Mode zu bringen, wirkt nicht mehr wie ein Vergnügen, um das Leben zu gestalten, sondern riecht nach Arbeit und dem falschen Leben. Ein gewisser Fatalismus hat sich breit gemacht, jede Abweichung würde sowieso gleich wieder eingemeindet. Deshalb ziehen es viele vor, sich lieber unauffällig in unscheinbare bis unsichtbare Fluchtlinien zurück zu ziehen. Das wirkt von Außen schon mal wie eine leichte Depression in gedeckten Tönen, erlaubt aber auch feinere Zwischentöne. Wirksam werden noch andere Faktoren. Die Politiken der Vereinzelung greifen mittlerweile so tief, das sich viele nicht noch weiter abtrennen möchten, indem sie eine weitere Entscheidung einführen. Bei bereits durchgesetzten ‚Moden, Trends und Hypes‘ mitzumachen, beinhaltete die Möglichkeit, das Spiel vielleicht ein bisschen langweilig, aber richtig zu spielen und so zumindest auf Zeit Teil von Verbindlichkeiten zu werden, statt sich durch eine verstörende Abweichung abzugrenzen. Der Wunsch liegt dann oft weniger darin, die verbindenden Zeichen eines Trends wieder aufzulösen als diesen zu erhalten.
Mögliche Vorreiter von kommender Moden kleiden sich oft bewusst unmodisch und meiden den Wandel: eine Band wie Easter verändert ihre Erscheinung nur geringfügig bis gar nicht. Eine solche Strategie der Uniform, die zum Merkmal wird, hat bereits Andy Warhol beschrieben. Sich zu verändern und trotzdem wiedererkannt zu werden, wird bei steigender Überproduktion ein immer schwierigeres Unterfangen. Auch die von der akademischen Behauptung einer „absoluten Gegenwart“ beschworene Geschichtsvergessenheit zeigt sich in der Mode meist eher als eine regelrecht besessene Suche nach Geschichte. Eine der schönsten Fotostrecken dieses Sommers gelang der Wiener Boutique Park, mit der 94jährigen Ernestine Stollberg. Der Nachbarin aus der Mondscheingasse steht die vergangene Zeit und das Erlebte buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Auch der hoch gehandelte Modedesigner Raf Simons bewirbt sich gerade weniger durch Neues als durch den seriellen Einblick in sein Archiv. Geschichte, wenn nicht gar Tradition, und die Bezüge in der Zeit werden zu eine Währung. Die Verlangsamung der Wechsel in der Mode haben aber noch andere Ursachen. Eine liegt in der Vielzahl von Kurzschlüssen, zu denen es in dem immer engeren Gewebe aus Feedback-Schlaufen zwischen den Angebotsvorschlägen der sie Entwerfenden und der Nachfrage durch die Käufer und Träger kommt. Videoaufnahmen von Modeschauen verbreiten sich virtuell innerhalb von Sekunden, während die materiellen Kleider oft Monate benötigen, bis sie in die Läden kommen. Was die Laufstege vorschlagen, wird entweder von den potentiellen Käufern mit den greifbaren Möglichkeiten realisiert oder von Billig-anbietern kopiert. Die Ankündigung der kommenden Mode wird durch die Verzögerung ihrer materiellen Verbreitung ausgebremst. Das angestammte System der Mode, der Informationsvorsprung einer Elite, kollabiert, da es schwerer wird, den Trend in der Warenform auszuwerten. Der Designer des Labels Vetements, Demna Gvasalia, das Gesicht eines angeblichen, ansonsten bis auf Adam namenlos bleibenden Kollektivs, interessiert sich deshalb auch kaum noch für Mode, sondern spricht von Kleidung, wie schon der Name der Firma besagt. Dem Kollaps des saisonalen Trends begegnet der Georgier offensiv mit eine Paraphrase von Helmut Lang und markiert die von ihm entworfenen Stücke mit dem Jahr ihrer Entstehung. Das galt bisher, sieht man von Langs Überschreitung ab, als Tabu, da von der Unverkäuflichkeit der abgelaufenen Ware ausgegangen wurde. Schon bei Lang führte die Datierung weg von der „absoluten Gegenwart“. Die dank ihrer unglaublichen Stabilität bis heute getragenen Kollektionen aus den späten 90er-Jahren führen vielmehr zu einem sequenziellen Umgang mit den vergangenen Gegenwarten. Eine entsprechende Jeansjacke ruft das Lebensgefühl von 1996 auf, als Erinnerung an gelebtes Leben oder als Projektionfläche auf die nicht erlebte Zeit, wie als lesbare Markierung im Verlauf der Zeit. Gvasalia entwickelt dieses Erlebnis einer ausgedehnten, in porösen Schlaufen erlebten Zeit, die sich kaum noch punktuell auf ein Jetzt verdichtet, in die Vorstellung von Trägern oder Usern weiter, die ein Kleidungsstück durch veränderte Kombination über mehrere Jahre immer wieder aktualisieren. Das einzelne Stück wird zu einer Markierung in der Zeit, die zwischen Vergangenheit und Zukunft wandert. Trends, die in den Gleichzeitigkeiten keine gesetzten Trends mehr sein können, werden zwischen Herstellern und Benutzern ausgehandelt. Es erwächst ein komplexes Gespräch und ein ungeahnter Raum. An die Stelle der Dichte eines neuen Trends treten aus der Gegenwart herausgehobene Objekte, mit denen sich auf der Zeitachse variabel bewegt werden kann. Sollte man, was da gerade entsteht, Post-Fashion, im Sinne von ‚Post-Contemporary‘, nennen, jenem Kunstwort, mit dem eine halbgar aus der Sprache geborgene Zeitphilosophie die Umordnung gerade auf einen Begriff zu bringen versucht? Nein. Warum? Schon ‚Post-Internet-Art‘ wirkte wie ein Behelfstrend gegen das Vakuum. Was als Danach behauptet wird, scheint alles andere als ausgemacht, nur weil die Uhren anders ticken. Angesichts der Unübersichtlichkeit der sich komplex verzweigenden Mode macht der etwas hilflose Zusatz Post-, samt seiner linearen Vorstellung von Ende wenig Sinn. Statt Begriffe zu prägen, um in einer akademischen Debatte zu beeindrucken, scheint es ergiebiger, dem sich Vollziehenden zuzusehen. Mit dem Zusatz Post- wendet man sich vor allem vom Geschehen ab. Was im Übergang erkennbar wird lässt sich genauso wenig auf den Begriff einer ‚absoluten Gegenwart‘ zusammenpressen. Es gibt etwas in der Art, aber es gibt viele und eben sequenzielle Dehnungen der Zeit. Wiederum sind es Vetements, die Letzteres mit aus Vintange-Material geschneiderten Jeans, die durch versetzte Nähte und Taschen Hintern, die versetzt wurden, erinnert, und den Zeitraum der Entfärbung sichtbar machen. Was sich zusammensetzt, ist ein tragbares Objekt, in dem sich Zeit als etwas Vergehendes zeigt. Mag der Einfall auf Junya Watanabe zurückgehen, gelingt seine Fortsetzung durch Vetements in ihrem Formalismus, der sich in die Hose als zum Ornament entfaltende Zeit, in einen Raum zur Verhandlung von Fragen verwandelt. Die Verschiebung von der punktuellen Verdichtung hin zu einer Sequenz, in der sich ein Bewegungsraum öffnet, lässt sich nicht nur in der Mode beobachten. Bei dem was Quent, wie viele, als ‚Zunahme der Informationsdichte‘ behauptet, könnte es sich bei genauerer Betrachtung um eine aufgelöstere Zustandsform handeln. Scheint es doch vielmehr so, als höre und sehe man immer mehr Nachrichten von geringer Dichte, die sich seriell wiederholen? Griechenland ging in der Informationsübertragung tausendmal pleite und in der Erzählung über den IS wiederholt sich das Muster seines Terrors, ohne dass sich die Informationen auf einen Punkt verdichten würden.
Vetements formulieren einen Aufbruch aus dem Mythos der ‚absoluten Gegenwart‘ und begeistern gerade dadurch. Es geht nicht mehr um ein Pathos der Innovation, sondern ein Weitergehen durch Kontinuität. Eine solche Zeitgenossenschaft, deren Verlust Quent und andere gern beklagen, wird bei Vetements möglich, da durch Bezüge auf die Vergangenheit, eine Distanz zur Gegenwart hergestellt wird. Was aus dem Abstand aufgerufen wird, sind Anklänge an die verschwundene Welten einer Kindheit in den letzten Jahren der Sowjetunion oder der virtuelle Eintritt in den Westen durch das Internet. Skulpturale Kleidungsstücke wie der Titanic Hoodie betrachten Hip Hop aus konstruktivistischer Perspektive und erzeugen im selben Moment eine gelassene Wendung des Dekonstruktivismus von Martin Margiela. Bei diesen Bezugnahmen geht es nicht um postmoderne Zeichenspiele, sondern um das Bemühen einer Verortung der eigenen Arbeit und Biografie. Statt vom ‚Neuen‘ sprechen, was in der Überproduktion des Westens immer ein wenig degoutant wirkt, formuliert Gvasalia, „es gibt bereits viele Dinge, die wir lieben. Warum sie nicht anders machen“. Darin drückt sich weniger Fortschrittsskepsis oder der Wunsch nach Erhalt aus, als das begründete Misstrauen gegenüber einer leerlaufenden Maschine, die das Neue beschwört, ohne dabei fortzuschreiten.
Die Umdeutungen des Champignons-Logos von Vetements rufen die zu Symbolen des Berlin der neunziger Jahre gewordenen Logo-T-Shirts von Daniel Pflumm auf und sind etwas ganz anderes, und sei es nur ein Stereotyp, zu dem man sich einfach gut in ein Verhältnis setzen kann, um weiterzugehen. Vetements braucht und benutzt vorhandene Systeme, wie die des Traditionshauses Balenciaga, für das Gvasalia und Adam mittlerweile arbeiten, um dessen Geschichte neu zu interpretieren. Was sich in diesen Verschiebungen transportiert, sind Momente des Übergangs durch Nachbilder des Vergangenen, deren Aufscheinen in eine veränderte Zukunft weisen könnte. Dabei geht es weniger um ein Dagegen, als um flüchtige Bewegungen an den Rändern der langen Geschichte des Hauses an der Avenue George V. Und es erstaunt, an welchen Stellen die Bewegungen der verschiedenen Zeiten zur Deckung kommen, nur um sich wieder voneinander zu entfernen. Schon Christóbal Balenciaga, der nie Interviews gab oder nach den Schauen vor das Publikum trat, arbeitete wie Vetements mit einer Methode, die als verschleierte Autorschaft bezeichnet werden könnte und hielt den Mode-Journalismus seiner Zeit im Unklaren darüber, ob es sich bei ihm um einen oder viele handelte oder ob er überhaupt existiere. Mode, man nennt es gerade Kleidung, lebt von einer Zeitgenossenschaft, die möglich wird, weil sie sich neben dem Jetzt bewegt, damit nichts so sein wird, wie es war.