Insektenpest
Die Bienen ziehen in die Stadt. Der Himmel, milchiges Glas, ist trübe, grüne Wolken wachsen über den Horizont, als würden sie sich auflehnen. Gegen wen? Insekten verdunkeln die Ecken des Himmels. Erwartungsvoll steht er vor dem Fenster und weiß nichts mit sich anzustellen. Ich red gegen mein Bild, sagt er. Ich red gegen den Spiegel und ich weiß wer ich bin. Vereinzelt drückt die Sonne durch. Ich heiß Pine und Pine hatte noch nie Karies, die Haare gefärbt oder einen Knochen gebrochen. Irgendwie unberührt, unversehrt. Kein Piercing, keine Tätowierung. Country,
Pine Country. Wer will, soll ruhig Pine sagen, und Pine hat kein schlechtes Gewissen, das sagt der auch, ich bestimmt nicht. Eine Insektenpest plagt die Stadt. Die Welt lehnt sich auf gegen den Menschen und die Welt versteht, dass sie sich damit gegen sich selbst auflehnt. Der Planet begeht Selbstmord, Freitod, Todsünde. Bloß keine Angst: Ich bin doch hier, sagt Pine, und solange ich hier bin, werde ich keinen alleine lassen. Er schaut sich an, um zu wissen wer er ist. Ich bin unversehrt und ich heiß Pine und Pine mag Delphine. Eben habe ich einen angetroffen, der hat ausgesehen wie ich, und der war ähnlich angezogen, von dem hab ich diese Papiere bekommen, der hat mich gebeten, diese Sache hier vorzutragen. Kann sein, es kommt ein Dritter hinzu, der behaupten wird, dass ich mir eben selbst begegnete, also dass ich das selber war, dagegen spricht: dem seine Zähne, die von dem Zweiten, waren sauberer als meine, was heißt: der lügt weniger, die Gedanken stottern, und Pine langt dem Spiegelbild ins Gesicht und zieht die Haut nach unten. Er spült den Brexit mit warmer Cola weg und betrachtet den Kotti vor wachsblauem Himmel.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Im Internet schlagen sich die Headlines: GROSSBRITANNIEN SCHOCKT DIE WELT, CAMERON PLANT RÜCKTRITT, MÄRKTE STÜRZEN AB, BREXIT LÖST EINE KASKADE AN NACHBEBEN AUS, KÜNDIGT BREXIT EINE TRUMP US-PRÄSIDENTSCHAFT AN? DER WESTEN ESKALIERT MIT RUSSLAND: DER KURS DER NATO IST EIN ZWEITER KALTER KRIEG. WASHINGTON UND PEKING MACHEN DIE BÜHNE FREI FÜR EINEN KONFLIKT IM SÜDCHINESISCHEN MEER. TERROR IN NIZZA! und NEUWAHLEN IN ÖSTERREICH. Vielleicht erinnert mich das, schimpft der Dritte, und das ist keine Überraschung, an den Spanischen Bürgerkrieg. Als die Revolution in Katalonien, Aragón usw. im Dienste der Republik unterwandert wurde, geschah das durch die Hand der Linken und um des Sieges gegen die Diktatur willen. Wenn ihr nicht für die Republik kämpft, wurde gesagt, wird es keine Revolution geben und über die kann man nicht reden. Falls die Faschisten verlieren und es keine Revolution gibt, stimmt es schon, dass ohne eine Revolution ein Sieg sinnlos ist; das wäre dann so, dass ein Sieg bloß eine Niederlage unter einem anderen Namen wäre. Hätten sich die demokratischen Kräfte für die Republik zusammengetan, oder die Republik für ihre Revolution, vom ersten Tag an, dann hätte sich Spanien dreißig Jahre Faschismus sparen und Europa einen großen Krieg verschieben können.
Heute schauen wir zu, wie sich antidemokratische Kräfte zusammentun, und würden die guten Linken ihre Unterstützung in Europa, Amerika und anderswo hinter dieser lauwarmen Revolution ballen, könnte diese Leidenschaft einen richtigen Rechtsrutsch womöglich verhindern und das angesichts der globalen Krisenfratze: die wachsende Ungleichheit, wirtschaftliche Verunsicherung, eine stagnierende Erholung, ein sich aufbäumender Militarismus, die anhaltende Bedrohung eines Atomkrieges, eine kultivierte Instabilität des Mittleren Ostens und Afrikas, pausenlos Krieg, und – die wirkliche Gefahr – der Klimawandel und das ökologische Desaster unserer Zeit. Pine ignoriert die Schimpferei und grollt: das heißt nicht, dass wir nicht alle anwesend waren, als wir drei uns begegnet sind. Ich habe wie ertappt aufgeschaut, als sich meine gespaltenen Teile in eine Dreieinigkeit multiplizierten und übrig bin nur ich geblieben, Pine.
Das Internet schreit: LKW RAST IN MENSCHENMENGE: 85 TOTE. 300 VERLETZTE.
Ein Mann schüttelt ihn, klatscht ihm die flache Hand ins Gesicht. Pine kann seinen Geburtstag nicht leiden. Er wäre lieber allein. Ohne Gesellschaft würde ihn die Depression lähmen. Der Typ streicht ihm den Pony aus der verschwitzten Stirn und sagt, aus diesem Grund will ich nicht bleiben, weil du weder Prinz noch Penner bist und ich dein Martin sein soll. Komm lieber ins Schlafzimmer. Komm unter meinen Mantel. Sie verschwinden und als die Sonne aufgeht, sitzt Pine wieder allein da, das Handy plärrt. Endlich alleine. Er freut sich und mixt zwei Aspirin Complex mit Soda und Zitrone. Er schaut den Flugzeugen und den Insekten zu, die vor dem Fenster denselben wachsblauen Himmel kreuzen. Die Hände fahren ins zottige Lammfell, es liegt auf seinem Schoss. Es riecht nach Zigaretten. Er nimmt das Handy in die Hand und antwortet, der Begrüßung folgt ein Schlagabtausch: Und wohin, wenn’s losgeht, Mama? Korsika? Azoren? Da gibt es eine US-Militärbasis. Das wird schnell gebombt. Wenn es Säure und Asche regnet, müssen wir sowieso in den Berg. In die Schweiz? Oder Neuseeland. Gestern war der Schweizer da. Hast du mit ihm geschlafen? Ja. Stimmung und Handyempfang sind fragil. Ist er noch da? Weiß nich, Mama. Wie? Er hat sich im Klo eingeschlossen. Ist er nicht rausgekommen? Bin eingeschlafen. Bist du nicht neugierig? Worauf? Ob er noch da ist. Ob er noch lebt? Das hättest du mitgekriegt. Würde er plötzlich zur Tür… Mit verheultem Gesicht. Mit Beulen im Gesicht. Ich bin müde und mein Herz pocht. Vielleicht haut er gegen die Tür. Weil er sie nich aufkriegt? Wundert’s dich?
Es vergeht einige Zeit und Pine versucht, die Fliegen zu zählen. Wollen wir nicht ins Ballhaus, Mama? Draußen scheint die Sonne. Wann? Wie? Wann scheint die Sonne, Mama? Ach, Pine. Also Ballhaus… sagen wir bald. Ich hol dich ab. Wenn du ihn findest, bring ihn mit, sagt die Telefonstimme, klickt, und Pine drückt die Auflegtaste. Ich bin praktisch unversehrt, sagt er, und mein Name ist Pine. Ich trag mein Haar kurz, weil es unkompliziert ist und es meinen Charakter unterstreicht. Draußen ist es endlich Sommer und nicht mehr grau und schlimm.
Pine zieht sich eine Hose an, geht außer Haus und trifft sich mit Mama im Ballhaus. Sie kennen sich aus dem Hotel. Da gibt es hunderte Angestellte, so viel Personal, dass jeder angewiesen ist, ein Namensschild zu tragen. Pine auch.
Die Jukebok spielt im Ballhaus. Irgendein Song aus den Achtzigern. Nach einigen Stunden ist die Zeit vergessen, das Empfinden verdrängt. Mama tanzt. Pine trinkt
Bier und unterhält sich mit der Barfrau. Er redet über Mama. Sie redet schon oft von ihr, sagt Pine. Von der Cousine, eben die, welche zwischen Karo und Mottenkugeln einen Strick knotete, aufhängte. Ich denk täglich an sie. Die Barfrau sagt nichts, sie trocknet abwechselnd ein Glas und schaut ihr Handy an. Er bestellt mehr Bier und bemerkt, seine Hose ist im Schritt feucht geworden. Die Barfrau legt das Glas weg und ihre pockenvernarbten Backen bewegen sich, als würde sie vielleicht lächeln, und sie sagt, du bist richtig nass da, wasn passiert?, sie lacht. Er riecht an der Feuchtigkeit, kann sie aber nicht bestimmen. Kondenswasser, raunt die Barfrau, ihre Beine sind längs der Bar überschlagen. Es tropft seit Stunden.
Sie seufzt und schnalzt und sagt, mach kein Ding, mach dich nicht wichtig, es trocknet doch, ihre Schlitzaugen, sie zwinkert. Ihre Nägel sind manikürt, regenbogenfarben. Ihre Brüste sind leise am Abschwellen. Das kommt von den Hormongenerika, sagt sie und stellt ihm das Bier vors Gesicht, die Schaumkrone schaukelt.
Ein Mann mit grauen Haaren sitzt an der Bar, sagt Unverständliches, schluchzt vielleicht, und sie sagt, der Alte heult seit Stunden, bläst Rauchringe in seine gegelten Haare, und will sein Goldkettchen in meinem Ausschnitt ankern, noch mehr haha, noch mehr Discokugellichtsalven. Mama tanzt. In- und auswendig, denkt Pine, kenn ich ihren Schritt und Rhythmus, jede Bewegung, und Mama sagt: Kein Cent ist verziehen, und so etwas wie, diese Dinge passieren ständig, uns geht es dauernd so, Karussell, Kreisverkehr, kabumm, große Gesten und jedes Mal reagieren wir bestürzt, aus uns allen werden Diebe vorm Gesetz gemacht, und so stecken wir unter einer Decke, bis ich weinend auf dem Duschboden kauere, bis wir nur noch Reis und Linsen essen. Ich denk täglich an sie. Mama verschwindet Richtung Klo.
Durch den Rauch, der von der Decke hängt, sieht Pine wie sie schwitzt, und er denkt, seitdem ich weiß, dass ich krank bin, fühl ich mich OK. Der Typ, dem Mama nachgeht, wischt hektisch über ein Touchscreen. Im Halbdunkel kann Pine das Gesicht nicht ausmachen, seine Prothesen reflektieren das Discolicht. Er ist groß und hot. Mama ist laut. Ihre Augenlider und Lippen sind in einem ähnlichen Rot angemalt und ihre Stimme ist überall und wahrscheinlich rinnt gerade ein synthetisches Lächeln ihre Backen entlang: willst noch?, sagt sie und, wirklich?, irgendwie energischer, und, cute, und dann: kannst dir das leisten? Sie meint: hältst du das aus? Der Typ hört: kannst immer noch?, und er macht den Touchscreen aus und sagt so was wie, fliegen wir nicht täglich?, und genau in diesem Moment denkt Pine an etwas Klebriges, was er zwar verachtet, aber davon überzeugt ist, dass sich später aus dieser Erinnerung gut Zeit machen lässt.
Der Touchscreentyp lächelt und er sagt: Macht mich voll an. Du in diesem Licht. Mama prustet: Lass weiter machen, bis du leer bist, bis du tot bist. Der Typ: Warum denkst du so ans Sterben? Weil’s Leben ausgedacht ist, sagt sie und reißt an seinem verschwitzten Hemdkragen, wie du aus dir diese Figur machst, sagt sie, eigenhändig zum Ritter geschlagen. Dein selbstbetiteltes Kleiner-Prinz-Dasein, sagt sie, gerade das, das interessiert mich wahnsinnig wenig, das macht mich fertig, und sie zieht ihn ins Separée, drückt ihn auf die Bank und schließt den Vorhang.
Pine weiß: So wie Mama über Vergangenes spricht. Ich kann das nicht. Ich kann nicht alles nachsagen. Erinnerung, du Miststück. Keiner weiß, was wirklich passiert ist. Mama sagt: Wenn wir uns wieder sehen, schreibe ich alles hin. Sie spricht siebzehn Sprachen. Sie hält einen Finger gegen seine Lippen, und sein Puls jubelt. Sie beugt sich über ihn und trinkt. Mama wird hart. Mama zieht die Haut zurück und raus kommt das Auge des Sturms. Sie spürt wie das Gefühl seine Finger verlässt, durch die Arme und in die Brust schießt, bevor das Ganze in seinem Gesicht landet. Du durchbrichst meine Haut, säuselt der Typ und verliert ein bisschen das Bewusstsein. Mama wichst und denkt, jedes Wochenende Ballhaus. Weil, denkt sie, was ich kann, das kann ich, krankgeschrieben sind alle und Talent ist auch nur eine Handelsware, und sie sagt, schau nicht so tief in meine Augen, und seine Wangen werden rot vor Freude, schau mich an, sagt sie, und: in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist die Jugend darauf angewiesen, Blut zu spenden, und er denkt: das kann ich auch, und: ihre Haut, in meinen Fingern, und er drückt solange rum, bis der letzte Tropfen raus ist, und sie kommt ein zweites Mal und atmet heftig. Mama lässt den Typen und sein Touchscreen am Klo stehen und geht zur Bar. Die Worte werden Stiche sein, sagt Pine später und Mama stöhnt, die unsere Leben zusammen nähen?, und beide lachen und sie fragt: Was machst du? Deinen Kopf anfassen. Und wie ist es? Ein lieber isses. Die Zeit vergeht und dann sagt Mama: lass uns bald auf dem Motorrad umarmen, bis Italien, bis an die Wellen heran. Bis Italien, ja. Pine hat dem Bier die Schaumkrone abgenommen und mischt sie unter einen Kaugummi, den er von der Bar kratzt. Damit spielt er in der Hand, bis sich eine schmutzbraune Kugel bildet und dann stellt er sich vor, diese Kugel ist sein Gehirn, und er kann das alles formen und gestalten wie er will. Dann lässt er seine Gedanken gehen und er erinnert, dass diese Gedanken sich nicht formen und gestalten lassen, bloß ausführen, wie ein Hund an der Leine, der Gassi muss, weil dieses Denken nicht produziert wird, sondern etwas ist, dass einem geschieht, diesem Denken und diesem Hochmut lässt sich höchstens eine Leine anlegen und vielleicht eine Tür öffnen, und so führt Pine seine Gedanken in die Vergangenheit, in die stumpfe, milchige Erinnerung, ins Verlies der Kindheit, als er als Bub, der frisch auf den Beinen ging, einige Sommer lang, sich entlang der Kirschbäume satt aß und der Kirschsaft entlang des Kindkörpers tropfte. Draußen spielt das Wetter.