Auf der Flucht vor der neuen Dringlichkeit
Ich schreibe zuhause am Küchentisch und trage dabei einen Jogginganzug. Um nicht völlig im Formlosen zu versinken, habe ich mir ein besonderes Modell ausgesucht. Rick Owens hat ihn nach Schnittmustern von Gefängniskleidung entworfen, weshalb der Schritt bis zum Knie durchhängt. Mein Sohn meint, ich würde darin wie ein Obdachloser aussehen und bittet mich, so nicht vor die Tür zu gehen oder zumindest die diskretere Jogging-Hose von Life Sport anzuziehen. Ich hätte auf ihn hören sollen, tat es aber nicht. Auf der Straße erkennt niemand, was ich für ein raffiniertes Sprachspiel zwischen kontrollgesellschaftlichem Jogging und disziplinargesellschaftlichem Hofgang vorführe. Wahrgenommen wird mein Auftritt als ein aus der Form gegangener Rest von etwas. Die sprechenden Blicke sehen jemanden im Verfall, auf dem Weg zum Leben unter der Brücke. Sie erkennen den Auftritt von einem, dem schon alles egal zu sein scheint und dem die Kraft fehlt, seine Situation noch irgendwie in den Griff zu bekommen. Ungefähr so fühlen sich die Blicke auf meinem Körper an. Verunsichert schaue ich zurück und versuche dabei auszusehen, als ob mir das egal wäre, wodurch die Situation noch schlimmer wird. Was gerade in Los Angeles oder Paris eine bestimmte Atmosphäre herstellen mag, teilt sich hier offensichtlich ganz anders mit. Jedenfalls steckt mir die Frau vom Kiosk einen Schokoriegel zu, da sie denkt, der Arzt habe mir die Antidepressiva gestrichen. Altona Altstadt scheint eine ungeeignete Kulisse für den Gefängnis-Jogger und die Leute vom Kiosk das falsche Publikum.
Ich gebe zu, die Jogging-Hose hat einen Geruch. In ihr bin ich weniger der Bürger, der sein Amt im öffentlichen Raum bekleidet, als jemand, der sich in eine privatere Nebenwirklichkeit verabschiedet hat. In jüngster Zeit erweiterte sich die Hose aber auch in den Ausdruck selbstbezüglicher Interessen, wenn Gestalten wie ApoRed sich in ihr als knallharter Hyperkonsument besingen oder das Duschgel Axe damit wirbt, man könne in ihr auch wie ein Boss aussehen. Jogging-Hosen sind auch I-pants, in denen ihre Filterblase die Träger das Störende oder das, was gerade nicht ins Weltbild passt, übersehen lässt oder die Hose, die die neuen Chefs anhaben, wenn sie die menschlichen Fehler im Unternehmen wie der Türsteher rauswerfen. Wir sind alle privatisiert, aber es gibt noch verschiedene Möglichkeiten damit umzugehen. Handlungsvorschläge werden einem ständig gemacht.
Die Verortung der Jogging-Hose als Aufzug des privatisierten, noch zupackenden Subjekts hat in Deutschland eine lange Geschichte. Schon vor einem Vierteljahrhundert brannte sich ein Bild ins kollektive Bewusstsein: das Bild jenes schwankenden Deutschen, der mit vollgepisster Jogging-Hose, dem Oberteil der Nationalmannschaft und besoffenem Sieg Heil-Gruß vor einer Asyl-Unterkunft in Rostock stand und dessen Bewohner bei lebendigem Leib verbrennen wollte. Ein in die soziale Verwahrung Abgeschobener, ein Privatisierter, der auf eine furchtbare Art politisch sein wollte und versuchte, sich die Kontrolle über den öffentlichen Raum des Öffentlichen zurückzuerobern. Das Bild des Mannes in der Jogging-Hose beschleunigte damals unter Künstler*innen das Gefühl einer Dringlichkeit, die dazu aufforderte sich angesichts des Rechtsrucks zu politisieren und eine gewisse Zurückgezogenheit aufzugeben. Ein komplexes, noch fragiles Gebilde, nach dem Zusammenbruch des Kunstmarktes entstanden, das versuchte fast alles unter künstlerischer Arbeit verstanden zu wissen, stellte sich unter Handlungszwang, wollte sich verhalten. Ich möchte hier nicht genauer auf die Neunzigerjahre zurückblicken, weil das in letzter Zeit ausführlich getan wurde und es in der Gegewart genug zum Schauen gibt. Auch trägt das, was in den letzten Monaten eine Rede von Dringlichkeit auslöste, in vielem ganz andere Züge.
In mir sträubt sich etwas, dieses Gefühl der neuen Dringlichkeit zu teilen. Mir bleibt unklar, was im Vergleich zu der Situation vor fünf, sieben oder neun Jahren dringlicher geworden sein soll? Waren die Verhältnisse nicht schon lange völlig falsch? Und was bringt es jetzt, auf das Gewitter scheinbarer Aktualitäten zu reagieren? Verliere ich dabei nicht einfach den Kern des Fehlers aus dem Auge? Und macht es einen so großen Unterschied, ob sich der Fehler gerade ins Groteske verzerrt oder nicht? Über das Groteske kann ich mich empören. Aber was soll das sein, Empörung? Ein wenig Reinigung der Luft? Liegt das Perfide des demokratischen Kapitalismus nicht gerade in seinem laufenden Betrieb, der nicht mehr weiter auffällt und einfach so dennoch durchläuft? Ist der Liberalismus, der sich gerade in Gefahr wiegt, nicht Teil des Problems? Oder sind das alles nur Fragen eines Privatisierten, der sich fragen sollte, in welcher verschlafenen Distanz er eigentlich lebt?
Der Versuch, anders zu leben, andere Sprachen zu entwickeln, andere symbolische Wirklichkeiten zu entwerfen, wird im Lärm des gegenwärtigen Spektakels der neuen Dringlichkeit laufend entwertet. All das seien nur selbstbezügliche Spiele von weltfernen Pennern. Und es gibt eine amtliche Begründung, die Kunst einmal wieder unter den Vorwurf der mangelnden Sinnproduktion zu stellen und etwas von ihren Protagonisten zu verlangen. Alle sollten endlich aufwachen. Die Erfahrung und der Vorwurf der gesellschaftlichen Irrelevanz dieses Tuns das man Kunst nennt, ist ein ständiger Begleiter, der mal lauter und mal leiser neben denen herum tut, die sich damit befassen. Aber sollte man sich von diesem Schatten, der hinter wechselnden Masken auftritt, wirklich überzeugen lassen, auf die Logik der falschen Wirklichkeit zuzugehen, ihre Sprache zu sprechen und irgendwann ihr Spiel zu spielen? Komme ich dann an, in dem was sie Wirklichkeit nennen? Und wenn ich dieses Level erklimme, weil ich von ihren Vorwürfen beschämt bin, nur verschlafen meinen selbstbezüglichen Kleingarten gepflegt zu haben, auch wenn ich bisher einen anderen Eindruck gehabt hatte, stehe ich dann nicht nur einfach in einer weiteren Fiktion?
Sie sagen, die Kunst wäre aus ihrem Dornröschenschlaf aufgeschreckt. Sie brüllen es ganz laut, bis der letzte, noch irgendwo in der Ecke Dösende es gehört hat. Und während sie brüllen, sitzt man da etwas verstört, mit seinem komischen, nicht selten ganz schön anstrengenden Tun, was sich dummerweise oft nur gering vom Nichtstun unterscheidet und denkt in all seinen Zweifeln, vielleicht haben die ja recht. Ihre aufgeregten Gesichter, die immer wissen, was getan werden muss, sehen einen vorwurfsvoller an und schreien: Du musst jetzt Verantwortung übernehmen. Verstört ziehe ich die Kapuze des Jogging-Anzugs über den Kopf, aber sie hören nicht auf, einen aufzufordern, zu etwas, was sie ganz allgemein und für alles offen „politisch“ nennen. Manchmal sind es Gesichter, die ich schon lange kenne und ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dieses Gesicht würden das Wort Politik jemals aussprechen. Aber jetzt wurde dieses Gesicht schon mit der Muttermilch zum Antifaschisten aufgezogen, gründete sein erstes Aktionsbündnis im Sandkasten und ergriff ein Leben lang Partei für die Verdammten dieser Erde. Und während das engagierte Gesicht immer weiter auf mich einredet, fühle ich mich immer schuldiger, weil ich mir ja selbst nicht geheuer bin in meinem regelmässig als asozial erlebten Tun und Lassen, von dem ich zwischenzeitlich nicht so genau sagen kann, ob es gerade einen Zusammenhang hat oder nur privatistische Übung ohne jegliches Ziel darstellt. Da das Gesicht nicht aufhört und ich die von ihm beschworene Sehnsucht nach der gemeinsamen Erfahrung teile, gehen wir gemeinsam auf eine Demonstration. Es fühlte sich auch alles gut an und es scheint gerade hilfreich, dies zu tun, aber daraus wird wenig mehr als eine konventionelle Form. In der Kunst führt mich diese Art von Kommunikation fast nirgendwohin, außer vielleicht in ein Förderprogramm. Wenn die Forderung lauter wird, wie sie es gerade tut, doch bitte zu verhandeln, was alle verhandeln und in einer für alle verständlichen Sprache, fühlt man sich mit seiner Arbeit im Steinbruch des immer auch Unverständlichen, dessen was ich selbst noch nicht verstehe, zunehmend bedrängt, irrelevant und privatisiert. Trotzdem weigere ich mich, mich nach den Regeln dessen, was sich als letzte Wirklichkeit behauptet, in eine hektische Reaktion auf etwas zu verwandeln, eine Reaktion, bei der ich gerade mal meine Haltung und Sprache verlieren könnte. Mir werden ständig Szenarios vorgestellt, die darauf setzen, dass ich reagiere und mich nach der anerkannten Decke strecke. Es sei lobenswert, wenn ich das tue. Aber warum sollte ich das tun? Um mich in einen Reflex in einem Reizschema zu verwandeln? Um mich an die Sinn-Produktion anzuschließen? Um Teil der Bedeutungen einer Gesellschaft zu werden, deren Existenz ich nicht will? Ich fühle mich in meinem stillen, viel zu langsamen Tun, mit seinem zurückgezogenen Charakter, seinem ständigen Zögern, und wieder Abwägen, und dem andauernden Gefühl der Irrelevanz nicht gerade rund um die Uhr wohl. Jede Gemütlichkeit ist der Situation entwichen, was sicher auch seine guten Seiten hat. Ich schlafe zwar nicht, aber ich fühle mich privatisiert. In diesem Gefühl der Privatisierung wird es immer schwerer zu unterscheiden, ob dies nun Teil des politischen Phänomens oder meine persönliche Situation ist? Werde ich entpolitisiert und habe selber Schuld daran, entpolitisiert zu sein? Habe ich mich schon lange als Subjekt aufgegeben? Die Unschärfe beunruhigt. Und vielleicht geht es darum, diese Verunsicherung auszuhalten und zu schauen, wohin sie einen führt? Freunde, mit denen ich spreche, haben oft ähnliche Zweifel. Von Entfernteren lese ich hingegen großartige und geschliffene Antworten, was getan werden müsste. An vielen brauche ich aber auch nicht lange zu klopfen bis sie in sich zusammenfallen. Denn was kann das sein, wenn alle dich verstehen, außer ein Leerlauf der Kommunikation? Sich als vom Staat bezahlter Kritiker aufzuspielen und damit fast zwangsläufig das Kritisierte zu stabilisieren, scheint ebenso weiterhin keine Möglichkeit. Ich kann auch keinen Weg darin erkennen, auf dem Erhalt der alten Burgen zu bestehen. Wohin soll das führen, außer in die Bestätigung der allseits suggerierten Aussichtslosigkeit? Da werde ich lieber Teil der angeblichen Oberflächlichkeit mit dem Rollkoffer. In ihrem organlosen Körper suche ich zumindest noch, statt schon alles gefunden zu haben und Wurzeln zu schlagen. Da es kein Zurück geben kann, bleibt einem nichts anderes als weiter zu gehen. Dafür brauche ich nicht gleich bei Null anzufangen. Die Verunsicherung scheint aber gar keine schlechte Voraussetzung. Durch sie kann ich mir eine Sprachlosigkeit eingestehen und kann mich verantwortungslos bewegen, ohne als Teilhaber eingegliedert zu werden. Der Verzicht auf den Zustand, in dem ich mich wissend glaube, muss wohl länger ausgehalten werden, um nicht gleich wieder zum altbekannten Wissen zurück zu kehren.