Ein Auswandererroman
Zufälligerweise las ich in Athen Altneuland von Theodor Herzl, einen der weniger bekannten Auswandererromane des 20. Jahrhunderts, während vor meinem Kaffeehaustisch in einer langen Reihe Gegenstände an mir vorbeigetragen wurden, Einfädler, Feuerzeuge, Taschentücher, Räucherstäbchen. So beginnt auch die Erzählung. Im Kaffeehaus – im Roman liegt es im Wiener achten Bezirk – trifft der Protagonist auf einen Armutsmigranten, der ihm Zündhölzer verkaufen möchte, murmelnd und ein wenig scheu, mit einem Auge auf den unmutigen Kellner. Das Café ist der Aufenthaltsort einer Reihe jüngerer Menschen, allesamt gut ausgebildet, mehr oder weniger arbeits- und geldlos.. Es schreibt sich das Jahr 1910.
Ich kaufte einen Einfädler, der Protagonist kaufte Streichhölzer. Die Sonne schien in Athen, in Wien war es Winter, und er ging aus einem allgemeinen Überdruss mit dem Streichholzvorbeiträger ein Stück die Straße hinunter, während ich zu Khora hinaufging, einem besetzten Haus, in dem für Migranten, und zum großen Teil von Migranten – ich traf dort Portugiesen, Deutsche, Franzosen und eine Katalanin, die dort eben einen Menschenturm Bau Workshop aushängte, jenen ein wenig absurden katalanischen Volkssport –, Kantine, Sprachkurse, Rechtsberatung, Bibliothek, sowie rumhängen und ausruhen können, angeboten wird.1
Entwurf einer Stadt
Die zionistische Idee, also Separatismus, angewandt auf eine Stadt für alle „Nomads“ („Wir sind ihr“ [TZK], „Parliament of Bodies“ [Preciado], Dorfgründungen in Berlin und alle anderen Flüchtenden aus Istanbul, New York, Berlin, Aleppo). Diese Stadt müsste neu gegründet werden, analog zu all den guten Ideen, wie bei Herzl, Schwebebahn und Frauenstimmrecht, – autolos jedenfalls und jeder darf wählen. Hier gibt es einen russisch-konstruktivistischen Entwurf einer Stadt für Nomaden mit Haustüren an der Rückseite des Hauses, sodass man nicht sieht, wann und ob es verlassen wird. Könnte zwischen Hamburg und Berlin liegen. Wo sich die Haustüren befinden können die Einwohner natürlich selber bestimmen.
Die Eisenbahn
Herzls Vorliebe für Eisenbahnen und den großen Eisenbahnknotenpunkt bei Haifa, an dem sich die Strecken zwischen Afrika, Europa, Russland und Asien treffen. Die Geografie ging jedenfalls gar nicht auf. Nicht zuletzt der erste Weltkrieg, den er nicht voraussieht, und der gegen diese geplante Geografie geführt wird. In Athen wiederum gibt es nun wegen Sparerlässen gar keine Eisenbahn ins Ausland mehr.
Der / das Moment
Alle Auswanderer-, Ex-Pats-, Nomads-, displaced- Erzählungen, die als persönliche erzählt werden, verlieren mit ihrer historischen Analogie ihr Moment. In Herzls Roman gewinnen sie aber ihr jeweilig Individuelles wieder zurück, weil er sie als Handlungsträger benötigt. In dieser strukturellen Gleichheit der Erzählungen im Jetzt würde es also ein Narrativ, wenn nicht einen Roman (einen zionistischen, separtistischen, utopischen? Roman) benötigen, um sie jeweils wieder zu Handlungsträgern zu machen und sie wieder zu individualisieren. Sonst ist all dies nur Moment einer Reaktion: der Flucht, dem Ausweichen.
Anmerkung
Altneuland ist ein utopischer Roman des Publizisten Theodor Herzl (1860–1904), der erstmals 1902 in Leipzig erschien.