Nach dem Referendum / Over Time Pt. 2
Berlin, 16.4.2017
Der Tag des Referendums. Heute haben sich 51 Prozent der Türk*innen, die zur Wahl berechtigt sind und zum Wählen gingen, für jene Verfassungsänderung entschieden, die Recep Tayyip Erdoğan auf den Weg gebracht hat und die dem Präsidenten beträchtliche Macht zuordnet. Die Zeitungen in Berlin bringen Berichte. Immer wieder geht es um die über 50 Prozent Wähler*innen, die in Deutschland pro Referendum votierten. Nur langsam dringt durch, dass es sich, rechnet man Wahlberechtigung und Wahlbeteiligung dagegen, tatsächlich nur um 12 Prozent handelt. Wer Interesse an einem Feindbild hat, belässt es bei jenem ersten Eindruck, nach dem die Türk*innen in Deutschland in der Mehrheit in einem demokratischen Vorgang gegen die Demokratie entscheiden. In der Türkei sieht man das etwas differenzierter.
Mich interessieren die Folgen, die persönlichen Reaktionen. Wird es einen „Brain-Drain“ geben? Angekündigt hatte es sich in den Monaten seit dem Putsch. Natürlich sind aus der Türkei schon lange Künstler*innen nach Berlin gekommen, seit Mitte des letzten Jahrhunderts und vermehrt nach dem Mauerfall. Immer wieder auch wegen politischer Umstände, die man als schlimmer bezeichnen muss als jene von heute. Doch nun kommen auch solche, die sich in Istanbul etabliert haben, in einer Stadt, deren Kunstszene florierte, und in einem Land, das sich seiner demokratischen Verfassung bewusst ist. Es ist etwas im Wandel, konkretisiert sich mit dem Referendum, und die Reaktionen auf die Situation sind mehr als nur Privatsache. Ein Rückblick.
Berlin im Herbst 2016
Schon ein halbes Jahr vor dem Referendum hatten A. und ich über Wohnungen gesprochen, als sie in Berlin zu Besuch war. Die Situation nach dem Putsch war der Auslöser, das Referendum stand noch nicht im Vordergrund. Einfach mal den andauernd auf dem Leben lastenden Druck los sein, dafür wäre es doch zu erwägen, ob man nicht auf eine gewisse Weile hierher zöge. Damit man wieder freier denken und arbeiten kann. Ein halbes Jahr später ist das nun noch nicht passiert, aber es scheint nur eine Frage der Zeit.
Berlin im Frühjahr 2017
Der Putsch ist nun etwa 10 Monate her. M. schreibt mir, sie möchte der Türkei vorrübergehend den Rücken kehren. Jedenfalls fängt sie an zu suchen, für sich und ihre Familie, und was läge näher als Berlin. Sie könnte eine Menge erzählen zur Situation, schreibt sie, aber nicht an dieser Stelle. Es geht um eine temporäre Situation, heißt es, sie wollen es im Sommer versuchen.
Ich möchte, wie in Teil 1 dieses Kolumnenbeitrags in Starship 15, wieder auf ältere Texte aus der Türkei zurückgreifen, namentlich Yaşar Kemals Autobiographie in Form eines Interviews mit Alain Bosquet – die Lokalisierung bleibt im Ungefähren, es sind Schriften über die Zeit.
Istanbul ca.1988 / Hermite ca. 1930
Die Frage: „Was wird aus meiner Türkei?“ war unangebracht, sogar in unseren Träumen. „Was wird aus uns?“ –so formulierten wir unsere Zweifel nicht. Eine einzige Idee beherrschte uns: fliehen. In das Land fliehen, das mein Onkel mit seiner schönen Stimme besang:
Graue Kraniche, o graue Kraniche,
Graue Kraniche, die ihr so hoch im Feuerhimmel wogt,
Tragt meinen Gruß zum See von Van,
Meinen Gruß zu diesen blauen Wassern,
Zu seinen Hirschkühen, die die Berge durchstreifen.
Tragt meinen Gruß zu den Ebenen,
Wo Flüsse aus Milch und Honig fließen …
YK 1531
Berlin, 2.4.2017
Derzeit ist F. in der Stadt. Wir treffen uns in einem Café. Er meint, keine Angst vor den staatlichen Autoritäten zu haben. Denn um Intellektuelle per se gehe es der Regierung nicht, nur um Leute, die in Behörden angestellt sind und in der sogenannten Gülen Bewegung aktiv. Zuletzt hatte ich F. noch so verstanden, dass diverse Alt-Kemalisten und Erdoğan sich zumindest darin einig wären, dass man auf dem Weg vom Putsch zum Referendum zumindest die linken Bewegungen und auch die der Kurden einschränken kann.
Istanbul ca. 1988
Ich konnte bis 1963 bei der Cumhuriyet arbeiten. In jenem Jahr löste der Druck der Regierung auf die Zeitung und deren Besitzer, die sich nicht widersetzen konnten, eine massive politische Säuberung aus. Ich wurde mit achtzehn weiteren Mitarbeitern, einschließlich des Herausgebers und des Chefredakteurs, entlassen. […] Alle Zeitungen schlugen mir die Tür vor der Nase zu.
YK 145
Berlin 5.4.2017
Aber wie schnell kommt man hierher? In der EU ist die Türkei nicht, dieser Umstand, und die seit Jahren hinaus gezögerte Visumfreiheit – umgekehrt müssen Deutsche kein Visum für eine Einreise vorweisen – bedeutet für jene, die das Land verlassen wollen, ganz andere Wege zu gehen, die wir in der EU kaum noch gewohnt sind. Um längerfristige Arbeitsvisa zu erhalten, sind Einladungen zu Projekten oder Ausstellungen nötig. Werden die Antragstellenden überhaupt akzeptiert von einem Land, in dem sich gerade die Rechtsausleger*innen in der Abwehr „fremder“ Arbeitskräfte überbieten? Solange es nur für einen überschaubaren Zeitraum ist, mag es gehen.
Und während ich dies schreibe, bringt Sigmar Gabriel, derzeit Außenminister, eine Visumfreiheit für „Künstler, Journalisten, NGO-Mitarbeiter“ ins Gespräch. Aber warum nur für diese? Weil sie das Land verändern wollten, verstehe ich ihn, und daher gefährdet seien – eine unzulässige Einschränkung auf kleinste Bevölkerungsgruppen.
Istanbul ca. 1965
Ich schrieb Drehbücher unter einem Decknamen. Sobald die Identität hinter dem Pseudonym an den Tag kam, wurde bei den Filmgesellschaften Zensur ausgeübt. Ein erstickender, lastender Druck. Und das in einer Türkei, die zur Demokratie überging! Unter dem Etikett der Demokratie lebten wir alle in einem Regime der hochgradigen Unterdrückung.
YK 173
Die Möglichkeiten eines Engagements von Künstler*innen in politischen Parteien scheinen in der Türkei begrenzt, obwohl es sehr viele Parteien gibt. Die alten linken Gruppierungen stecken oft in Tradition und rituellen Beschwörungen vergangener Zeiten und Märtyrern fest. Eine grüne Partei konnte sich nie etablieren. Die kurdischen Parteien, die oft auch linke und kreative Stimmen versammeln konnten, wurden regelmäßig verboten und müssen sich dann wieder neu gründen. Und die CHP als kemalistische Altpartei bietet derzeit auch keine interessanten Alternativen zur ungefährdet regierenden AKP, die nun auch offiziell wieder Erdoğans Partei wird. Die außerparlamentarischen Bewegungen waren schnell unterdrückt; und sie werden wie im Gezi-Park gleichzeitig von mehreren Seiten okkupiert, wo schnell Fahnen unterschiedlichster politischer Couleur sich vermengten. Gerade darin sehen aber einige eine Chance: dass sich auf solchem Grund die sonst getrennt agierenden Bewegungen treffen.
Istanbul ca. 1988
Ich bin nicht mehr in einer politischen Partei aktiv. Vor langer Zeit wurde meiner Partei jegliche Aktivität verboten. Und ich habe keine Lust, professionell Politik zu machen. Seit 1971 wurde ich nicht mehr ins Gefängnis gesteckt.
YK 183
Berlin, 18.4.2017
Der Tag nach dem Referendum. Vom Stadtforscher Orhan Esen erreicht mich eine Email. Sie ist an viele gerichtet, ein offenes Statement. Sie wirkt wie der Versuch einer Statusbestimmung gegen das offizielle Ergebnis, das, so der Eindruck, den die Mail vermittelt, nicht den wirklichen Mehrheitsverhältnissen entspricht. Er möchte die „andere Hälfte“ würdigen, die nur knapp unterlag; er sieht neue Mehrheiten, aus unterschiedlichen Gruppierungen entstehen, die noch nicht in den Zahlen abgebildet sind, aber viel realer.
heute haben wir gelernt, dass wir eine gemeinsame basis haben. wir mögen unterschiedliche hüte tragen, in etwa türke, kurde, moslem, alevit, nicht-moslem, atheist, linker, grüner, liberaler, kemalist, islamist, nationalist... mit einem guten vorsatz haben wir uns auf dem gemeinsamen grund der demokratie zusammengefunden: wir haben unter schwierigsten verhältnissen selber erfahren und bewiesen, dass wir die konstituierende hälfte einer neuen demokratischen gesellschaft ausmachen. mit allen und sicherlich auch ernstzunehmenden unterschieden sind wir heute zum erstenmal als ein politisches subjekt in der arena der geschichte aufgetreten.
Ankara, 18.4.2017
Einfach wird es nicht.
Der Ausnahmezustand wurde um weitere 3 Monate verlängert. Nach Inkrafttreten der Verfassungsänderung darf der Präsident den Ausnahmezustand in Zukunft alleine verhängen. Bisher oblag dies dem Ministerrat.
Anmerkung
Yaşar Kemal, Der Baum des Narren. Mein Leben. Im Gespräch mit Alain Bosquet, Paris: Gallimard 1992 / Zürich: Unionsverlag 1999