Der Beautiful Books Club (BBC)
berichtet über jene Bücher, die wichtig sind fürs Weiterlesen wollen.
Eines Tages fragte man Pasolini, ob er sich als linker Künstler nach den Zeiten Brechts oder der „engagierten Literatur“ à la française sehne, und er antwortete: „Überhaupt nicht. Ich empfinde nur Sehnsucht nach den armen, echten Menschen, die sich schlugen, um ihren Herren zu stürzen, ohne aber deswegen seinen Platz einnehmen zu wollen“. Zum einen wohl ein anarchischer Versuch, den politischen Widerstand von bloßer Parteiorganisation zu entkoppeln. Zum anderen der Versuch, die Emanzipation nicht nach dem Modell eines Aufstiegs zu Reichtum und Macht zu denken. Schließlich ein Versuch, auch das Gedächtnis – Argot, Tätowierungen, Mimiken, Sondersprachen, die einem bestimmten Milieu eigen sind – und das Begehren, das damit einhergeht, als politische Mächte zu berücksichtigen, als ebenso viele Weisen des Protests, die es ermöglichen, die Zukunft neu zu konfigurieren.
Nun aber sieht Pasolini im Bild vom Verschwinden der Glühwürmchen, dem Verschwinden der vies minuscles, der Leben im Kleinen, der Heroismen im Kleinen, die Zukunft als zum Scheitern verurteilt und der Verzweiflung preisgegeben. Die Glühwürmchen sind verschwunden, das bedeutet für Pasolini: die Kultur (PPP: die heterotopen (Sub-)Kulturen, „Sonderkulturen”), die er bis dahin als eine – populäre oder avantgardistische – Praktik des Widerstands betrachtete, ist ihrerseits zu einem Werkzeug der Barbarei geworden, indem sie sich nunmehr in einem Reich der verallgemeinernden Toleranz abkapselt und überhaupt kein Außerhalb mehr zulässt.
Eine unstellbare Welt, ein Vakuum. An die Stelle der aktuellen Konflikte sind reibungslos einheitliche Systeme gesetzt. Im Vakuum herrscht eine Furcht vor der Dramatik der bestimmten und gerichteten Konflikte und eine ständige Flucht in spannungslose, ideale Kontinuität. An die Stelle des komplexen, sprunghaften Geschehens tritt das gefällige Spiel mit leblosen Begriffsobjekten und Namen. Man beschäftigt sich mit konstruierten Problemen, die bereits immer die eine theoretische Lösung enthalten. Gleichzeitig befriedigt man so das Selbstgefühl der Klientel – zu den Gewinnern zu gehören, aber auf der richtigen Seite zu stehen. Die Wolkenschieber hypnotisieren das Publikum auf irgendeinen scheinbar problematischen Punkt. Der Witz der Suggestion besteht darin, die Kundschaft zu betäuben, so dass sie über dem idealen Problem die aktuellen Fragen vergisst. Damit ist die geschichtliche Dialektik freilich erledigt. Die Szenerie wird beherrscht von der Illusion der längst erreichten Vollkommenheit. Jetzt war jede Revolte sinnlos geworden, denn die Gesetze des Vakuums künden von ewiger Geltung und Wiederholung und verhöhnen den Willen zur Änderung.
Bei der Recherche über all das, bin ich, vor ein paar Wochen erst, zu einem einfachen, absolut entwaffnenden Schluss gekommen: All diese verfemten Literaten sind schlicht und ergreifend arme Schlucker gewesen. Heutzutage würden wir sagen: Sieh an, das ist ja eine hübsche Bande von Pennern. Rousseau, Kierkegaard, Marx, Nietzsche, Benjamin, Bataille, Blanchot und Debord sind, seit die Philosophie fast vollständig universitär geworden ist, (…), die Einzigen, die Abseits der Universität irgendeine konzeptuelle Arbeit von Format versucht haben: Und die Gesellschaft hat ihnen am Zeug geflickt, ihnen, die jener doch nichts getan hatten, ganz im Gegenteil. Genau davon erzählt der Satz Benjamins: Meiner Arbeit als Intellektueller gebührt nicht mehr und nicht weniger Lohn als der des anonymen Arbeiters, der sich umbringt wie ich, des bougnats, des Kohlenhändlers um die Ecke, oder der Milchfrau, wie Artaud sagen würde. Ich hatte nicht genügend Zeit, um die unzähligen Briefe wiederzufinden, in denen Artaud auf entwaffnende Weise nur vom Essen redet, von Teigpastete mit Käse und Aioli, von Bouillabaisse oder von Brathähnchen, weil in der entsetzlichen psychiatrischen Politik zu Zeiten Vichys, die nichts anderes als eine Politik der langsamen Vernichtung war, weil da also Leute wie Artaud, die gleichermaßen die Geisteskrankheit, die „entartete Kunst“ und die „Avantgarde“ präsentierten, tatsächlich schlicht und ergreifend verfolgt, absichtlich ausgehungert, vergiftet und gequält wurden. Die von Artaud vorgetragene Autobiographie ist also über das übliche Maß hinaus entwaffnend in ihrer Einfachheit, ihrer Buchstäblichkeit. Er ist verfolgt worden. Auf die denkbar platteste und bürokratischste Weise.
Überleben der Glühwürmchen. Eine Politik des Nachlebens; Georges Didi-Huberman, Fink, 2012.
bzgl. Freibeuterschriften; Pier Paolo Pasolini, Wagenbach, 2011
„Die Fabrikation der Fiktionen“; Carl Einstein,
Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Sibylle Penkert (ed.), Rowohlt, 1973
Artaud und die Theorie des Komplotts; Mehdi Belhaj Kacem, Matthes & Seitz, 2017