Schweig! Vielmehr, sprich!
aus: Carla Lonzi; Diario di una femminista
14. August
Ich bin mit einigen japanischen Mädchen oben auf einer Mauer. Ich möchte hinunter springen, aber sie haben Angst und wollen nicht. Also frage ich eine Frau, eine Art Aufpasserin, ob wir, weil wir so brav waren, den Stacheldraht überklettern dürfen. Sie willigt ein. Später bin ich im Auto mit Simone. Die Aufpasserin fährt und ich bin stolz, sie zum Feminismus bekehrt zu haben, in dem ich ihr diese wichtige Funktion zugedacht habe. Als wir bremsen, habe ich Angst, dass wir in eine Mauer hineinknallen, aber die anderen beruhigen mich.
Ich habe einen Flirt mit einem Arzt, dem ich ziemlich vorsichtig Avancen mache. Der Arzt ist weißblond, Typ tropischer Abenteurer.
Ester hatte immer viele Freundinnen, ihren jeweiligen Bedürnissen entsprechend. Ich dagegen habe mir nie Situationen, in denen ich Trost hätte brauchen können, vorgestellt. Eine solche Vorstellung fand ich eher beschämend. Aber mich hat auch beschämt, dass sie unsere Freundschaft mit anderen Freundinnen ergänzte, die für mich ausgesprochen verzichtbar waren. Mich auf keinen Fall auf die Hilfe anderer zu stützen, hat mich mit einem Anschein von Weisheit umgeben, die mir selbst fremd war, und dieser Widerspruch hat mich beunruhigt. In einem Gedicht schrieb ich:
„Vorbereitet / auf alles, außer Hilfe anzunehmen / und es würde nur eine Stimme von außen benötigen, um ihn zu unterbrechen / den Prozess der Bedeutungslosigkeit, aber alle / die Stimmen, über die ich verfüge, sind meine.“
Ich möchte zwei Themen dieses Gedichts klären; einer ist der der der inerzia – die Trägheit, zum einen das „alte Laster“ zum anderen eine Art Widerstand gegen die Emanzipation, „ein großer Gedanke, gefangen in einer Warteschleife bis er sich entfaltet / als notwendige Frucht der Trägheit / des Nicht-Kriegs-Führenden“.
Ja, ich verstehe, ich wollte mich befreien, aber nicht auf eine dafür vorgesehene Art, vor Wettbewerbssituationen hatte ich eine Riesenangst.
Andererseits trauerte ich um meine „abgetriebenen Gedanken“, an die ich das Thema der „Nicht-Geburt“ knüpfte, das mir bis heute nicht klar ist und von dem ich glaube, dass es ein und dasselbe ist.
Der Lockruf der Authentizität, dieses „Stolz auf sich sein können“ ist eine andere Konstante, oder das „schlagende Herz“, das ich erhoffte, in den anderen entflammen zu können, wenngleich nicht kompetitiv, sondern in „aller Bescheidenheit“, aber mein ganzes Leben schien mir in „Wohlgerüche“ eingehüllt, auch wenn mich der Zweifel verfolgte, wie sehr ich selbst darin wirklich vorkam.
Später verstand ich, dass es genau meine vorgebliche Authentizität war, die mich auf der Welt so unrealisiert zurück ließ.„Der Gang, unschuldig für den, der ihn geht, im selben Abstand zum Nullpunkt“
Ich weiß immer noch nicht, welchen für mich wichtigen Aspekt ich in der Poesie vernachlässigt haben könnte; das erklärt vielleicht, warum ich an einem bestimmten Punkt aufgehört habe, zu schreiben. Die Umkreisung war in den wesentlichen Stufen abgeschlossen, ich wandte mich etwas anderem zu, dem Begreifen des Menschen in seinem kreativen Moment, den Künstlern. So begann meine intensivste Zeit als Kunstkritikerin, insgesamt zehn Jahre, von ’60 bis ’70 (die Poesie dagegen wohl von ’58 bis ’63). Ich hätte nie Feministin werden können, wenn ich nicht mit diesem höchsten Moment im Wesen des Menschen (in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie, exakt im hegelianischen Sinn) vertraut gewesen wäre, weil sich für mich der Feminismus genau damit messen muss, um das Ungenügen des patriarchalen männlichen Subjekts zu begreifen. Der Feminismus auf politischer Ebene ist wie ein Nadel, die zwischen der Überschätzung und der Unterschätzung des Mannes hin und herschwingt. Rivolta Femminile ist aus genau zwei Leuten entstanden. Ester [Carla Accardi] und mir, die wir uns über die männliche Subjektivität Fragen stellten, genau aus dem Grund, weil wir als Subjekte uns mitten unter ihnen befanden. Ester vor allem als Künstlerin, ich im Bewusstsein einer „unterschiedlichen“ Identität. Vanda wiederum hat in die Entstehung der Rivolta eine undeutliche Wut hineingebracht und hat mit dem Druck, den sie damit machte, in mir Energien freigesetzt, bestimmte Wege einzuschlagen, die ich instinktiv immer gemieden hatte. Das waren vor allem Wege einer plakativen Rebellion gegen den Kanon der Vaginalität. Was mich störte, war ihr Anspruch, dass ich als Gehirn arbeiten sollte, ohne dass sie mich als Person verstand. Ich fühlte mich unter dem Etikett „Für den Feminismus“ instrumentalisiert.
Die Eintrittskarte, um in die männliche Welt einzudringen und um alle Eignungstests im kulturellen Feld zu bestehen, war für mich die Dialektik. Das ist die Seite an mir, von der ich sagen kann, dass sie kolonialisiert wurde, im Gegensatz zu Sara, die Männern gegenüber besser schweigen konnte als ich, und sicherlich empfand ich eine gewisse Euphorie dabei, die Dialektik zu beherrschen, aber ich glaube, ich habe mich ihrer vor allem bedient, um nicht von den Wachhunden beseitigt zu werden, die in der patriarchalen Welt um die kreativen Milieus kreisen und sie unerreichbar für die Ausgeschlossenen machen. Was mich betrifft, habe ich die erwünschten Probestücke abgeliefert, aber die Erfahrung, die in der Poesie zusammengekommen war, und die wahrscheinlich auch nur ich bemerkte,war letztlich die einzige Orientierung, die ich besass und auf die ich mich verlassen konnte. Autoritratto besteht dagegen lediglich aus der Aufnahme von irgendwelchem fortlaufenden Gestammel, was einfach alles war, was ich in diesem Wettbewerb zu sagen hatte, auch wenn sich hier und dort Anzeichen von Kompetenz finden lassen. Kaum mit dem Feminismus begonnen, schrieb ich „Wir spucken auf Hegel“, aus multiplen Gründen, aber auch um einen Raum frei zu räumen, von dem ich fühlte, dass dort alle, wir, hätten existieren und wachsen können.
Am Anfang bin ich einer dialektischen Schwäche bezichtigt worden, aber von denen, die sich die Ideen auf ein niedrigeres Niveau zurechtschustern wollten: das hat mir geholfen, der Gefahr, als Subkultur oder Leichtgewicht gesehen zu werden, zu begegnen. Ich habe meine Intuitionen mit Rationalismus verteidigt, der ihnen zwar nichts hinzugefügt hat, aber der sie von den typischen Widerlegungen der Männerwelt schützte.
23. Juni
Das hat geholfen, die Feministinnen von dem Verdacht zu befreien, dass die Abwesenheit von Männern bei den Versammlungen zeigt, dass ein Mann mit seiner Argumentation alle zum Schweigen bringen könnte. So hat sich die Rivolta femminile eine Basis geschaffen, um sich das Recht herauszunehmen, bei Null beginnen zu können, bei der Selbsterkenntnis (autocoscienza). Das habe ich verstanden, als die Selbsterkenntnis in den anderen begann, vor allem in denen, die sich in der ganzen Neuheit einer bis dahin nicht ausgedrückten Person äußerten. Ich spürte, dass die Rivolta meine Verteidigung auf dialektischer Ebene nicht mehr brauchte. Die Dialektik wurde zu einem Anachronismus. Vor allem hatten wir eine neue Realität. Ich konnte mich aktiv auf mich konzentrieren und auf die Narben, die mein vergangenes Leben mitten in einer männlichen Welt unvermeidbar an und bei mir hinterlassen hatte.
Bei der Selbsterkenntnis handelt es sich um eine grundlegende Erfahrung für ein menschliches Wesen, die es ermöglicht, bisher institutionalisierten und abgenutzten Bewegungen den Sinn zurückzugeben. Zum Beispiel wurde das Schreiben zu einem eigenständigen, notwendigen Instrument, in seiner Eigenschaft das Denken abzuschließen, ihm die Möglichkeit der Präzisierung zu geben, es zu konsolidieren und es anderen auf ihrem Weg zu kommunizieren. Es ist nicht mehr ein Schreiben, das mit Wünschen nach Ausserordentlichkeit oder Talent überfrachtet ist; Alle brauchten es und alle erkannten seine Tragweite. Das muss ich Piera sagen, damit sie versteht, dass sie sich nicht das Schreiben als extrovertierte Geste verbietet; sondern im Gegenteil weiter schreibt, damit sie sich im Notfall verteidigen kann. Bis jetzt verbindet sie es mit einem Sich-in-die-kulturelle-Sphäre-Begeben.
15. August
Die Sprache meiner Poesie bewegt mich nicht weniger als der Inhalt der Gedichte selbst. Die Geburt dieser „anderen“ Frau ist nicht die Geburt der Venus, sie ist kein Triumph. Ich habe mir nichts angeeignet, was den Rahmen gesprengt hätte, und es bleibt der Eindruck der Mühseligkeit und der Penibilität der Umstände, in denen ich mich bewegte. So gibt es etwas Schulmeisterliches in den Gedichten, abhängig davon, dass ich versuchte, aus dem, wie ich lebte, zu lernen und es zu übersetzen. Ich bemerkte, dass es wenig war, das ich zu ergreifen vermochte, ich lebte mit wachem Ohr; das half nicht viel, also verstand ich, dass das wohl alles war; der Anfang eines Bewusstseins meiner selbst.
Heute bin ich den dritten Tag in Erice…
übersetzt aus dem Italienischen von Ariane Müller