Der Beautiful Books Club (BBC)
Der Beautiful Books Club (BBC) berichtet über jene Bücher, die wichtig sind fürs Weiterlesen wollen.
Jutta Koether, F, Sternberg Press, 2015
Nathalie Quintane, Wohin mit den Mittelklassen?, Matthes & Seitz, Berlin, 2018
Niklas Luhmann, Die Kontrolle von Intransparenz, Suhrkamp, 2017
Was mich bei den meisten Leuten immer am meisten interessiert, ist, wie sie leben, das heißt, wie machen sie ihr Geld. Wenn ich eine ungefähre Ahnung habe, wie sie ihr Geld machen, dann vergesse ich das Geld, und kann mit ihnen über alles sprechen, was es zu sprechen gibt. Manchmal ist das sehr peinlich. Ich weiß, ich muß mich zusammenreißen, denn ich weiß, wie sehr die Person es hasst, ausgefragt zu werden und persönliche Daten preiszugeben, und ich verstehe es, denn ich will ja auch keine persönlichen Daten austauschen, aber die Frage nach dem Geld nagt an mir, während ich mich unterhalte. Immer ist alles Geld, wenn Geld da war, für Pläne, Dinge, Reisen, das Sehen weggegangen, nie für Bilder. Bilder sind das Grauen. Und wie oft habe ich es geliebt, mich diesem Grauen auszusetzen, dem inhaltlichen Grauen, den Wunden, wie sie die spanischen Maler gemalt haben, dem üppigen Fleisch von Rubensgemälden, dem analytischen und verzweifelten Geschehen oder Nichtgeschehen auf den Goya-Bildern, den wahnsinnigen Gelüsten Delacroix’ und den gequälten Romantizismen von Turner, und … ich darf nicht anfangen, Namen zu nennen, ich würde nie wieder aufhören, und es sind auch nicht die Namen derer, mit deren Werk meine Augen etwas zu tun haben. Bilder aber sind keine Kicks. Ich habe noch nie ein Bild gesehen und gedacht, dieses Bild will ich haben, oder dieses Bild will ich auch machen. Ich habe aber oft das Gefühl, dass ich dieses oder jenes auch haben will, wenn es um Dinge geht, die ich gesehen habe, um Musik, um Ringe oder um Sweatshirts und schwarze Röcke. Oder eine Zeitung, frische Aprikosen, Muffins, Bagels, einen satten Scheck oder Neuigkeiten von alten Freunden oder eine Bürste.
Entlang der Straße von Pierrefitte nach Sarcelles-Lochères gibt es Mittelklassen und Unterschichten (mehr nicht). Wenn ich diese Straße entlang ging, sah ich diese Mittelklassen und diese Unterschichten lange Zeit nicht einmal schemenhaft. Lange waren das einfach Leute, und das war alle Welt. Hinter dieser Straße gab es zwar nicht nichts, aber ich dachte nicht daran, denn ich dachte nur an den Weg – einen langen, zu zwei Dritteln zwischen Pierrefitte und Lochères menschenleeren Weg, danach, je mehr in der Ferne die weißen Mauern von Les Flandes in Sicht kamen, immer bevölkerter. Geschäfte, Kamm-Diebstähle. Alle zwölfjährigen Mädchen stahlen. (Es gab noch keine Barcodes; es gab eine Zeit, in der es weder Barcodes noch Wachmänner gab und auch keine bewaffneten Soldaten in den Bahnhöfen oder Checkpoints am Eingang von Museen und Behörden. Es gab einmal diese Zeit. Sie ist vorbei.) Ich ging in Lochères also, ohne es zu wissen, an einer Reihe noch nicht existierender Checkpoints vorbei. An Kämmen, die man in die Gesäßtasche der Jeans gleiten lassen konnte. Die Firmen planten ein bestimmtes Quantum an Diebstählen mit ein, es wurde in der Bilanz mit einem Minuszeichen erwähnt – und das war’s. Millenium People erzählt, wie die Bewohner einer Wohngegend in Chelsea, die wegen der Erhöhung von Steuern und Parkgebühren von Ressentiment zur Revolte übergegangen sind, alles in London zu zerschlagen beginnen, wie sie eine Videothek anzünden, ein Attentat in Heathrow begehen und willkürlich Leute töten. „Es gibt ein tiefes Bedürfnis nach willkürlichem Handeln, und je grausamer desto besser.“ Vielleicht muss man in der Beschreibung tatsächlich so weit gehen, um endlich klarzumachen, dass die Mittelklassen die einzigen und wahren inneren Feinde der Demokratie sind. Nun sind sie aber Feinde, die sich selbst als Freunde der Demokratie definieren, und umso gefährlicher sind sie. Denn sie schieben ihren vermeintlich unzureichenden Aufstieg innerhalb der Klasseneieruhr – der eigentlich nur ihr allzu realer Abstieg ist – auf die Demokratie, sie geben der Demokratie (und nicht mehr den Regierungen) die Schuld daran; wegen der Demokratie haben sie nicht mehr genug Kohle; wegen der Demokratie machen ihre Kinder mehr Rechtschreibfehler, wegen ihr fahren sie nur noch zehn Tage in den Urlaub statt fünfzehn und wegen ihr werden sie Ski in billigerer Qualität leihen müssen (usw.). Sie wollen nicht als Obdachlose enden, und diese Angst haben sie dem ganzen sozialen Körper – außer den Obdachlosen selbst – praktisch aufgetaggt, diese Vorstellung, dass das Land demnächst (d.h. morgen) 70 Millionen Obdachlose zählen könnte. Gleichzeitig sind sie die authentische Stütze der Demokratie, denn alle Welt sagt immer wieder, dass sie der Beweis für jene liberale Demokratie sind, die sich seit den 50er Jahren konstant ausbreitet und die ihnen die zusätzlichen Kröten geschenkt hat, mit denen sie die Überfülle an aus den Fabriken quellenden Produkten schlucken können und alles, was sich sonst noch so konstant ausbreitet wie Dank des 0%-Kredits gekaufte größere Häuser, in denen man wiederum die Masse an Produkten in einem einzigen Behälter unterbringen kann – oder eventuell zwei (dem Zweitwohnsitz) …
Wenn man den vorstehenden skizzierten Überlegungen folgt, erscheint als letzte Referenz der Reflexion nur die selbsterzeugte Unbestimmtheit, die nicht vermieden werden kann, wenn Reflexionsschleifen und damit Zeitdifferenzen in ein System eingebaut werden. Es geht also um eine Reflexion der Reflexion in nicht mehr überbietbarer Form ohne Versuch einer Begründung und deshalb auch ohne die Gefahr des infiniten Regresses. In der Erkenntnistheorie führt das zu einem radikalen Konstruktivismus und zur Erzeugung nicht konsenspflichtiger Realitäten. Darin mag einer der Gründe liegen, weshalb das Verlangen nach Ethik gegenwärtig um sich greift. Nur findet man sich hier vor dem strukturgleichen Problem einer zu einfach gebauten Theorie: in beiden Bereichen, in Erkennen und Handeln, stößt man auf das Problem der selbsterzeugten Unbestimmtheit, das nur kontingent weiterbehandelt und in brauchbare Formen umgewandelt werden kann. Wenn man in dieser Lage überhaupt im Bestande der abendländischen Traditionen nach Modellen für eine Lösung suchen will, dann könnte man vielleicht an das Konzept der Stoa denken, das sich mehr als einmal in unruhigen Zeiten bewährt hat, nämlich an die Weisung, in Ruhe und Würde auszuhalten, was immer sich an eigenem und fremdem Handeln abspielt.
Es handelt sich ja bereits um die Crème de la Crème der Mittelklassen, die Dank ihres Besitzes von Kulturgütern oder anderem überhaupt versteht, was „sich selbst verwirklichen“ bedeutet. Die Literaturlehrerin, die ich bin, ist der Meinung, dass man sich durch das Lesen von Literatur selbst verwirklichen kann. Die Literatur steht meiner Überzeugung nach an der Spitze der Maslowschen Pyramide, denn sie verschafft einen von Geld absolut unangetasteten Reichtum – solange es Bibliotheken gibt, muss man nicht einmal ein Buch kaufen. Das Lesen von Literatur wäscht uns buchstäblich nicht nur von all dem rund um uns rein, was sich zwischen beschmutzend und ekelhaft bewegt, sondern sie erschafft auch ein Kokon, aus dem unsere Raupen schlüpfen können, wenn die Barbaren vorübergezogen sein werden.
Ich möchte in diesem Text nichts anderes sein als ein Kartoffelspezialist der über Kartoffeln spricht und seinen Gegenstand mit ernsthaftem Interesse, aus der Distanz in aller Freundschaft behandelt. Ich gehöre selbst der Mittelklasse an und ich hasse mich nicht.