Nullerjahre
Ich hör nichts, denkt Pine, weder vom Zweiten noch vom Dritten, gar nichts, wo steckt ihr? Wo sind die? Ich hör mir selber zu, was fad ist, weil ich weiß, was ich denk: als du mit der Familie den Teppich in Bayeux anschauen warst, lag ich unter der Decke. Als ich das Handy stummschaltete, warst du weg. Das Internetradio spielt schale Hits aus den Nullerjahren. Mama schickt Blumenbilder. Er klatscht die Fliege mit einer Postkarte aus der Luft und schmiert sie an die Wand. Eine Karte aus Bayeux. Ein Detail des Teppichs, eine krude Darstellung des Kometen Halley. Das älteste Bild des Himmelskörperchen. Der Komet, der alle 76 Jahre wiederkommt, der Erdenlover Halley. Das Licht wird mit jedem Mal dunkler, bei jeder Rückkehr leuchtet Halley weniger. Seit hunderten Jahren reduziert die Sonne ihren Schweif, das All schluckt ihre Helligkeit. Die Sonne schäumt über vor Komplimenten. Martha ist in Frankreich. Er wollte ihr nachreisen. Die Tickets waren gebucht. Die haben ihn nicht ins Flugzeug gelassen. Er hatte stundenlang in Schönefeld herumgestanden. Er ist um acht Uhr zurück gekommen. Er will niemanden wecken. Das System der Fluglinie akzeptierte den online Check-in nicht, weil es ein von der Botschaft ausgestellter Pass war. Das Reisedokument ist temporär. Der Pass wurde in einem anderen Land ausgestellt und stimmt nicht mit dem Land seiner Nationalität überein. Ausstellungsbehörde: Ausländisch. Nationalität: Deutsch. So steht es im System. Er wartete drei Stunden in Schönefeld und stritt mit der Fluggesellschaft, irgendwann wurde mit der Polizei gedroht. Flug zum zweiten Mal umsonst gekauft. Er hat das abgeschrieben. Eigentlich nicht seine Schuld. Dann hat er geschlafen und entschieden, ich bleib im Bett. Er wendet die Postkarte im Halbdunkel. Der Komet, der wiederkommt. Der Komet, der den Kriegern den Weg leuchtet. Der 68 Meter lange gestickte Teppich dokumentiert in 58 Einzelszenen die Eroberung Englands. 202 Pferde, 55 Hunde, 505 andere Tiere, 41 Schiffe und Boote, 49 Bäume, 620 Männer und drei Frauen sind abgebildet – und Halley, die um die Zeit der geschilderten Ereignisse den sonnennächsten Punkt erreichte. Halley, eine unentschiedene Identität. Kann sein, dass der Teppich in Canterbury gestickt wurde. Die älteste bekannte Vereinbarung, die die Arbeit in Teppichwerkstätten regelt, ist von 1303. Die Vorschriften legten unter anderem fest, dass die Stickerinnen und Sticker nur bei Tageslicht arbeiten. Der hunderte Jahre zuvor entstandene Teppich von Bayeux wurde wahrscheinlich nachts, bei Mond- und Kerzenlicht in einem feuchten Keller gefertigt. Nachts, wenn der Blutgeruch der wunden, stickenden Finger die Ratten und Schaben anlockte.
Er drückt die Fliege mit der Postkarte gegen die Wand und das Insektenblut verschmiert die auf die Rückseite gekrakelte Ausrede: Ich konnte das Fernweh nicht im Fernglas ertränken. – Martha. Sie könnten cruisen. Sie könnten die Nächte im Ballhaus verbringen. Du bist in Frankreich. Europa schämt sich. So hatte sich das einen Tag nach dem anderen wiederholt, als wäre ich wahnsinnig geworden, als wäre täglich meine persönliche Halley vorbei gezogen, als hätte die Zeit eine andere Bedeutung gehabt. Während du auf dem Gold Beach spazieren warst, die gesammelten Muscheln in einer Plastiktüte um die Knie schwingend, während du die Befestigung am Horizont versucht hattest auszumachen, nachdem du Käse und Baguette gefrühstückt hattest, kratzte ich meine von unterschiedlichen Kerbtieren zerstochenen Unterarme. Vom Gefühl her war die Stimmung okay, er war nur nicht geübt darin, er kann schlecht alleine sein. Als Martha ihre Stelle im Hotel gekündigt hatte und nach Frankreich gefahren war, fing das Verkriechen an, Verstecken üben, den Kopf mit Ablenkungen auffüllen, Inhalte verdrängen, sich dem Äußeren entziehen und den Rückzug wagen, das war das planlose Vorhaben. Es bestand darin die Folgen zu verweigern, auszublenden. Mindestens solange bis sich etwas, bis endlich etwas ändern würde. Ein Krüppel eines Zustandes, bis die Bewegung losgehen und das Nichtvorankommmen zu einer Erwartung heranwachsen könnte, welche schliesslich dem Bedürfnis weichen und die erträumte Krankheit auslösen würde. Er hatte beschlossen, ich sag alles ab. Ich mach mich allein.
Seitdem ich weiss, dass ich krank bin, ist es bereits anders geworden. Er schniefte, ass zu viel, konnte nicht richtig schlafen und wenn es trotzdem gelang, erwachte er schwitzend mit hohem Puls. Er liess sich krankschreiben. Obwohl es sich nur um eine Verkühlung handeln konnte, wusste Pine, dass er nicht wieder in die Arbeit gehen würde. Das Hotel hatte schnell Ersatz gefunden. Eigentlich hatte er es von Anfang an gewusst, dass er nicht zurückgehen würde, das wusste er als Martha ihre Stelle gekündigt hatte, bevor sie nach Frankreich abgehauen war. Nach einigen Tagen Bettruhe war Pine überzeugt davon, dass seine wahre Krankheit am Auftauen war und sich ihr Ausmaß erst beweisen würde. Er bildete sich ein, dass die Erreger noch schlummerten. Sobald die Erreger ausbrechen und die Oberhand übernehmen würden, sobald sie seinen Organismus überrumpelt hatten, würde sich das Ausmaß seines Infiziertwerdens zeigen. Die Wunschvorstellungen eines lebensverändernden Erregers hatten sich, bedingt durch einen maßlosen Konsum schlecht geschriebenen Fernsehens, in seiner Fantasie eingenistet, seine Gedanken und Vorstellungen waren von medial verseuchten Schnapsideen durchsetzt. Er streamte sich ins Verderben. Seine Haut war mit Quaddeln übersät. Er kratzte sie wund. Die Kerbtierchen sammelten sich krabbelnd ums Fenster. Seit er sich die Krankheit einzureden begonnen hatte, fühlte er sich seltsam gestärkt. Er bildete sich ein, die Mücken aus der Luft heraus zu pflücken. Er stellte eine dramatisch klingende Selbstdiagnose, sein Zustand würde sich als unheilbar, wenn auch nicht als tödlich herausstellen. Draußen kämpften Insekten gegen Insekten. Kann der Krieg die Plage beenden? Als Martha nach einigen Monaten aus Frankreich heimkehrt, hören sie zwei Wochen nichts voneinander und als sie sich endlich treffen, löst ihre Begegnung etwas aus, was die Stimmung umschlagen lässt. Er macht sie für die Veränderung verantwortlich, sie ist doch zu Besuch, er schlecht gelaunt, was er sich nicht erklären kann. Warum hat sich ihr Umgang verändert? Weisst du, sagt Pine beleidigt. Sobald meine Krankheit ihre eigentliche Form enthüllt, wenn sie ausbricht, wird sie mich verändern, darauf kannst du wetten, du wirst mich nicht wiedererkennen, sie wird mich ins Nicht-Erkennbare verwandeln. Das haben die Ärzte gesagt. Die Natur meines Wesens wird eine andere werden. Ich werde grundlegend anders werden. Zurzeit sind zwar keine Symptome bemerkbar, aber die Entwicklung ist im Gang.
Wer sich nicht gut fühlt, ist möglicherweise heilbar, weil bereits gegen die Symptome anzugehen möglich ist. Ist es hingegen eine sehr seltene Krankheit, hatte Pine einen der Ärzte, die er sich zur Unterstützung ausgedacht hatte, sagen hören, wie in ihrem Fall, über den nur gesagt werden kann, dass sich Erreger in ihrem Körper befinden, aber man weder weiß, wie sie da hingekommen sind, noch was sie da genau vorhaben, empfehlen wir die nächsten Schritte entschlossen zu gehen. Aus Erfahrung lässt sich sagen, dass ihr Körpertyp aus dieser Situation geschwächt hervorgehen wird, weil diese Krankheit ihre Konstitution unter Beschuss nimmt, was dem Ziel dient, sozusagen ein Fundament zu errichten, eine Fläche zu ermöglichen, worauf sich die neue Lebensfähigkeit bilden kann. Erst müssen sie in ihre Teile zerlegt werden, bevor etwas Neues entstehen kann. Ausser dem Befund und einer tiefsitzenden Gewissheit gab es keine äußeren Anzeichen, die auf eine Krankheit hätten schließen lassen. Die Dinge hatten bereits begonnen ihren Lauf zu nehmen. Es war, als hätte die Krankheit durch ihren bevorstehenden Ausgang, ihre hypothetische Potentialität, erste Auswirkungen gezeigt. Er wusste es, er brauchte es nicht zu fühlen. Ein neues Leben hatte sich in seinem Inneren breitgemacht, mikroskopisch klein, und war dabei, sein eigenes zu ersetzen. Er hatte sich damit zurecht gefunden die Veränderung abzuwarten, die Zeit abzusitzen, bis er sich verwandeln würde. In Momenten des Zweifels schmiedete er Pläne gegen die Mikroorganismen und überlegte sie auszutricksen, dafür musste er den Verlauf kennen, so verbrachte er Stunden damit, Theorien über den möglichen Ausgang zu entwerfen, wer weiss das schon, ob die Welt nach der Verwandlung noch zu ertragen wäre. Falls es möglich wäre, hätte er sich darauf eingelassen mit den Fremdkörperchen etwas auszuhandeln. Für einen kleinen Happen Kontrolle hätte er einiges getan. Die Ärzte hatten ihm einen Countdown gegeben. Weniger als ein Jahr, das war ausgemacht. Nicht den Tod hatten sie ihm vorausgesagt, eine tiefgründige Veränderung, eine Wesensänderung, das wurde ihm versprochen.
Unter den vielen Ärzten, die er in seiner Vorstellung aufgesucht hatte, gab es einen, der ihn an Mehmet Ali, den Kurden aus dem Könige, erinnerte, eine starke Gestalt, hot. Dr. Ali, der Spezialist unter Spezialisten, der machte Sprachwitze wie Mehmet aus dem Könige, dümmliche Konnotationsreime. Eine radikale Umgestaltung ihres Wesens, sagte Dr. Ali, darauf sollten sie sich gefasst machen, das werden sie erleben. Die Ursache, diese kuriose Krankheit haben sie möglicherweise wo aufgelesen oder es wurde ihnen durch das Erbmaterial oder in der Kindheit durch einen situationsbedingten Umgang übertragen. Es könnte sich durch ein Trauma eingenistet haben. Das ist wie bei einer Gefühlserbschaft, die sich ohne Worte, aber mit der Sprache der Affekte, Berührungen oder Blicke, weitergeben lässt, eine fehlende oder falsche Intensität solcher Zärtlichkeiten, sowas kann vieles, schwierig Nachvollziehbares bedingen. Gibt es Spuren auf mütterlicher Seite? Sie sind tatsächlich eine medizinische Seltenheit, vielleicht ein Einzelfall, bekannte Methoden sind nutzlos, sie leiden unter einem kaum sichtbaren Befall kleinster Lebewesen, die Allerkleinsten, eine komplexe Mikroorganismenkultur … die Verwandlung, das kann ich ihnen garantieren, ist von unvorhersehbarem Ausgang, vielleicht werden sie ein Tier oder eine Bestie, das wäre das Beste, haha. Lieber Huhn als Frikassee, lieber irgendwas als Nichtstun.
Weil die Krankheit jung ist, haben wir keine Erfahrung und deshalb ist die Behandlung, ehrlich gesagt, ein Spiel mit dem Glück. In Pines Ohren klingt das wie ein Geschenk, er freut sich: Verwandlung, Metamorphose, alles neu gemacht! Symptome und damit im Zusammenhang stehende Gefühlspogrome, meinte Dr. Ali, seien ungewiss. Man werde auf jede Veränderung gefasst sein. Man werde gegen jede Krankheitsäusserung betont vorgehen. Obwohl es nicht klar sei, wann die Verwandlung eintreten und ob überhaupt eine merkliche Veränderung auszumachen sei. Achtsam bleiben, das ist wichtig, Pine war auf der Hut. Dr. Ali verschrieb dem Patienten verschiedene Präparate. Eine ganze Liste an Medikamenten, welche Pine sorgfältig gefaltet in seinem Portemonnaie verschwinden ließ, wobei er nicht vorhatte, das gestempelte Dokument – welches aus einem gebrauchten S-Bahnticket bestand – jemals herauszunehmen und gegen imaginäre Medizin einzutauschen. Dr. Ali sagte: Wir beginnen mit einer Mischung an Substanzen, welche das Handeln der Mikroorganismen, wichtiger noch, ihre Vermehrung unterbinden soll, dann werden wir sehen, ob sich die Wirkung des Komplexes als wirksam erweist und in einem Ausscheidungsverfahren werden wir feststellen, welche der Substanzen wir ausschließen können. Später, nach einigen Wochen, falls das Blutbild keine Tendenz zur Normalität aufweist, werden wir die Dosierung erhöhen und die Mischung anpassen. Pine gab vor, dem Programm zuzustimmen, wenigstens würde er so tun. Doch hatte er bereits beschlossen, die Pillen nicht abzuholen, nichts zu schlucken, um sich dem Schicksal seiner Krankheit, der bevorstehenden Verwandlung, zu stellen. Er würde sich dem Lauf der Dinge unterstellen, abwarten und sehen was passiert. Gerne malte er sich aus, worin seine Umgestaltung enden würde. Vielleicht würde er eine Süßigkeit werden. Erst würde er in der Natur verschwinden. Er würde in die Erde sinken.
Klein, hart, umschlossen, liegt der Kern unter der Erde, zieht und saugt Wasser, sucht Halt im Untergrund, von wo er wächst und wohin es ihn zieht, spürt die Wärme der Sonne, reckt er den Trieb, wächst, wächst und treibt ungeduldig nach Oben, in die Luft und in den Himmel, Wurzeln schlagen in die entgegengesetzte Richtung, lockern die Welt von unten, unter den Wolken sprießt das Grün, wächst der Sonne entgegen, die Rinde wird härter, Kreise sammeln sich an; bis wer anderes kommt und in Handarbeit den Stamm pfropft, bis die Geisfußveredelung fertig und Wetterfestigkeit erreicht ist, steht er im Wind und Hagel, mal schüttelt es den Stamm, mal wiegen die Äste; aus einem Kern ist er zu verworrenem Obstgehölz herangewachsen, steht verwurzelt und tut mächtig, bis wer anderes kommt und die Früchte erntet. Er ist ein roter Apfel geworden. Schon beginnt die letzte Phase der Umgestaltung, die zuckrige Suppe siedet. Wer anderes hält seinen Stiel zwischen den Fingern und taucht ihn mit Haut und Kernen in den heißen Zucker, süße Lava. Sobald er trocken ist, leuchtet der Zuckermantel, als würde er tollwütig grinsen, die Kinder grabschen nach dem glänzenden Rot und in dem Moment überkommt ihn eine Verunsicherung, kann er überhaupt etwas sein, das andere begehren? Und warum überhaupt organisches Material? Muss man lebendig sein, um zu existieren? Würde er lieber etwas Totes werden, etwas aus Kunststoff oder legiertem Stahl? Das lässt sich nicht vorstellen! So eine Transmutation liegt außerhalb des Denkvermögens. Und vielleicht, dachte Pine, verändert sich das Gesicht, der Charakter oder die Erinnerung. Die Ärzte hatten keine Ahnung. Die einzig andere krankheitsbedingte Verwandlung ist verschwunden, der andere Patient, dessen Fall vor einem dutzend Jahren die Runden machte, ist nicht aufzufinden. Ein Architekt, ein rußiger Russe, wenn ich mich recht erinnere. Aber, lux in tenebris, sagte Dr. Ali, sie sind ein hervorragendes Studienobjekt, jung, normative Verfassung, angepasster Lebenswandel, übliche Intelligenz. Mittags und abends, pünktlich, solle er die Medikamente schlucken und auf alles achten, ob sich schließlich etwas verändere. Erst müsse man sehen, ob sich die Mikroorganismen vertreiben ließen. Zu diesem Zweck würde in regelmäßigen Abständen größere Mengen Blut untersucht. Damit es weitergeht wie bisher, sagte Dr. Ali und fasste ihm zuneigungsvoll an die Schulter. Er konnte nicht verstehen, warum die Ärzte angefangen hatten, ihn zu berühren. Ich bin eine fehl gezündete Rakete, feuchter Sprengstoff, dachte er, und es bleibt nichts anderes als auf den Funkenregen nach der Explosion zu warten. Ich werde jede Veränderung, sowohl äußerlich als auch innerlich, in einem eigens dafür angeschafften Notizbuch festhalten. Bisher hatte er nichts notiert und er war neugierig, was der erste Eintrag sagen würde. Die Tage vergingen so schnell wie das tägliche Frühstück. Er war Herbst und alles was er wollte, war sich einzuschließen und die Verwandlung abzuwarten.
Vor einer Weile, eh nicht lange her, als Mama zu Besuch bei Pine war, hatte die Begegnung zwischen den beiden Gefühle ausgelöst, welche Pine nicht beschreiben konnte. Er hatte ihr sagen wollen, deine Anwesenheit löst etwas aus. Wenn ich versuche es in Worte zu fassen, will es nicht über die Lippen. Ich weiss nur, dass du mir zuwider bist, das wofür du stehst, widersagt mir, dein Sprechen, dein Denken, deine Haltung, deine Stimmlage, unsere Energie und die ganze Situation, als wäre ich gegen dein Wesen allergisch, wenn ich deine Entscheidungen und deine Sprache hinterfrage, geht es gegen den Strich. Widert mich an. Weil wir beide daran erkranken, ich wegen deinem Bild und du, ja du. Weil wir die Vergangenheit beide nicht leiden können. Jeden Tag redest du von Momo. Dann bist du weg. Ich will die Geschichte vergessen. Aber es geht nicht, du hast mir die Gefühle eingetrichtert und das obwohl ich sie nicht kannte, sie ist ein Teil von mir geworden. Ich halte es nicht aus. Ihre Geschichte nagelt mich. Ich kann es so schlecht erklären, aber deine Anwesenheit beleidigt, ich weiss es nicht, wie es kam, bevor du gegangen bist, war es nicht so, anders. Nur noch unangenehmes Gefühl ist übrig, als wären wir uns fremd, als wären wir unverwandt. Ich empfinde dich nicht mehr, wie ist das möglich? Mein Kopf gestaltet dein Bild negativ, es endet im Vorwurf, meine Klage, dein Versagen. Welches Licht verursacht deine Projektion? Martha antwortete klarsichtig: dabei kann deine Freundschaft selbstlos sein, wo ist die Linie zwischen Freundschaft und Liebe? Wer kann mehr behaupten, als dass er zwei oder drei anderen Menschen ähnlich zärtlich und nah wie das Wetter durchs Leben gezogen ist.
Sie nahm seine Hand und zeigte ihm seine Angst. Die Geschichte meiner Cousine, sagte sie, handelt vom langen Erwachsenwerden, in dem das von der Vergangenheit und Niederschlägen traumatisierte Kind in einer Mischung aus Lethargie und Manie die erstarrten Gefühle zu kompensieren sucht. Kapitulation ist die Sünde! Sie wies darauf hin, ohne es aussprechen zu müssen, was sich in ihm sträubte, wogegen er sich wehrte, ihn schmerzte, dass sie weggegangen ist, dass sie ihn allein gelassen hatte, als er sich brauchte. Er kannte die Umstände, er hatte nichts gegen ihre Gründe, er verurteilte sie, als ihm das bewusst wurde, war er schockiert, hatte er gewusst, dass ihr Weggang ihn beschäftigte, dass es eine Rolle spielte, aber dass es so einschneidend, ja körperlich, ihn berühren würde, damit konnte er nicht rechnen. Dass es ihn so treffen würde, dass es sie auseinander treibt. Dass ihr Verlust ihn in seine Teile zerlegt. Dass er sie verstehen konnte. Ihre Entscheidung, nicht wie sie sie ist, denkt oder handelt, dass es ihm aber widersagt, dass er trotzig wird, sich immer noch verlassen fühlt, was schlimmer ist, als sich alleine zu fühlen. Der Verlust verursacht den Schmerz, nicht die Einsamkeit. So etwas kann ein Leben begleiten, bis heute reicht es, dass er sie dafür hassen will, dass er sie so sehr brauchte, weil sie ihm das schenkte, was ihm fehlte. Martha umarmt ihn, sagt: du verstehst mich schon, das kann sich auf die Gründe meines Weggehens beziehen oder auf jene Gründe, weshalb ich dich nicht einfach mitnahm. Einfach ist ein ungeschickter Ausdruck, da damals und der Zeit danach alles nicht einfach war. Ich nehme an es ist noch nicht soweit, aber irgendwann wirst du Fragen stellen. Pine wollte keine Antworten hören. Früher dachte er, dass er es ist, der sich entwickelt, heute weiß er, dass er es ist, der sich verändert, dass es seine Gestaltung ist, die seine Identität steuert. Und was machst du damit, fragt Martha? Ich mach gar nichts.
Er verlässt das Haus und denkt an Alkmaion, der nach dem Muttermord von Erynnien verfolgt wird. Beim Späti kauft er sich Süßigkeiten und überisst sich. Er beisst auf süsssauren Schlangen. Er isst ein Schnitzelbrot. Er raucht eine Zigarette und der Spätimann sagt: schade, geht das Essen in den Magen und nicht in einen metaphysischen Raum. Pine: ich würde Lebensmittel am Liebsten sowieso nur abschlecken, kauen und wieder ausspucken – das könnte ich nie! Gerade das Schlucken ist so befriedigend. Morgen meld ich mich im Fitnesscenter an und ess wieder achtsam. So bissi metaphysisch ist der Magen eh, man sieht ihn nie, steckt etwas Knuspriges rein und heraus kommt eine wolligwarme Emotion.