Unwirklichkeit und Wirklichkeit von sozialem Sadismus
– George H. von Wright, in Ludwig Wittgenstein: Schriften, Beiheft 1, Suhrkamp 1972, ISBN 978-3-51804-676-0
– Ingeborg Bachmann, in Ludwig Wittgenstein: Schriften, Beiheft 1, Suhrkamp 1972, ISBN 978-3-51804-676-0
– Vilém Flusser, Die Geschichte des Teufels, Edition Flusser 2006, ISBN 978-3-92328-340-8
– Elisabeth Lenk, Kritische Phantasie, Matthes&Seitz 1986, ISBN: 978-3-88221-368-3
– Fred Moten, in Stefano Harney, Fred Moten: Eine Poetik der Undercommons, Merve 2019, ISBN: 978-3-96273-031-4
Eine Eigenschaft von Wittgensteins Werk, die in Zukunft gewiß mehr Beachtung finden wird als bisher, ist die sprachliche. Der literarische Wert der Sätze im Tractatus ist bekannt und anerkannt. Dasselbe gilt für die Philosophischen Untersuchungen. Der Stil ist einfach und klar, der Satzbau sicher und übersichtlich, der Rhythmus leicht fließend. Die Form konzentriert sich bisweilen, wie im Tractatus, zu Aphorismen. Das Auffallende an seinem Werk ist, daß es auf jede literarische Ausschmückung und ebenso auf jede fachliche Terminologie verzichtet. Die Vereinigung von strengster Einfachheit und größtem Phantasiereichtum, der Eindruck natürlichsten Übergehen von einem Gedanken zum anderen, verbunden mit überraschenden Wendungen, mag an die Tatsache erinnern, daß unter den großen Meistern der Musik, die in Wittgensteins Heimatstadt schufen, ihm Schubert der liebste war.
Aber läßt Wittgenstein uns nicht wissen, daß die sittliche Form, die wie die logische nicht darstellbar ist, sich zeigt und Wirklichkeit ist? „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, sagt er am Ende und meint damit eben diese Wirklichkeit, von der wir uns kein Bild machen können und dürfen. Oder folgert er auch, daß wir mit unserer Sprache verspielt haben, weil sie kein Wort enthält auf das es ankäme?
Die Philosophen operieren mit Begriffen also mit Worten, mit Symbolen. Der Zufall jedoch läßt sich nicht symbolisieren, er ist kein Begriff im wahren Sinne des Wortes, er läßt sich nicht begreifen. Er läßt nicht nur keine Erklärung zu, sondern, was viel ärger ist, er fordert keine Erklärung. Man muß ihn hinnehmen, wie er ist, er ist mit dem Wunder identisch.
Der Zufall in der sinnlichen Welt, das ist das Zeug, das wir gewöhnt sind, „Wirklichkeit“ zu nennen. Daß wir zufällig stolpern und zufällig einem Bekannten begegnen, das ist der Stoff aus dem die Welt gebaut ist.
Im Bild, das unsere Gesellschaft von sich selber hat, ist das Unglück nicht vorgesehn. Wenn es aus Zufall, als eine Panne, auf dem Weg zur allgemeinen Beglückung, dennoch eintritt, herrscht ein stillschweigender Konsensus, daß zumindest eine Dramatisierung unter allen Umständen vermieden werden muß. Ingeborg Bachmann geht in den Todesarten von jenem Tabu der Dramatisierung aus, dessen geschichtsphilosophische Implikation des Bürgertums sie durchschaut. Auch sie stellt den in der Literatur der späten sechziger und frühen siebziger Jahren so beliebten alltäglichen Alltag dar, nur daß hier – kleine Abweichung – die Perspektive eine weibliche ist. Den Alltag mit seinen Problemen, mit der Nötigung sich zwischen Bosch und AEG zu entscheiden, sich noch rasch die Augenbrauen zu zupfen und Zwiebeln sehr fein zu hacken. In Malina nennt sie den alltäglichen Alltag „Heute“. Aber auf einmal tauchen in dieser Kruste, die immer auch eine Sprachkruste ist, Risse auf, und durch diese Risse hindurch wird die Wirklichkeit des Unglücks sichtbar. Die Prosa hört nicht auf Prosa zu sein, aber sie verläßt das Heute, das wie ein Nadelöhr ist und durch das eher ein Kamel käme als die Liebe, die so sehnsüchtig erwartet wird. Es gibt nur unherzliche, abstinente Beziehungen in diesem Heute.
Der Romanzyklus Todesarten enthält eine furchtbare Anklage. Diese Anklage lautet auf Mord. Der Vorwurf ist nicht psychologisch gemeint. Er betrifft nicht eigentlich einen bestimmten Mann, auch nicht „die traumatische Attacke einer Vaterfigur“, wie ein Kritiker meint. Opfer ist zwar immer eine konkrete Frau. Aber das Leiden, an dem sie zugrunde geht, ist universell. Es ist die graue Substanz des nur scheinbar neutralen Denkens, das sich im inneren der Menschen einnistet und sie unmerklich zerstört, das ihnen ihre zweite Haut, die sie zum Atmen brauchen, ihre Schutzhülle nimmt. Die Menschen enden und verenden im Kerker der alltäglichen Unwirklichkeit. Der Hang zur Karikatur, zur Groteske, ist daher nicht die Verzerrung, sondern die Richtigstellung, und in jeder Literatur, die mehr ist als die kunstgewerbliche Abbildung der sozialen Fassade, wird man diesen Zug finden. Der Punkt aber, von dem ich spreche, liegt im vitalen Sein, im Heterogenen, das ausgeschlossen und in Nichtsein verwandelt wurde. Was hätte der Romanzyklus Todesarten anderes sein sollen als eine Beschreibung der unmerklichen, unblutigen Vernichtung des Anderen im Menschen, des weiblichen Ich, das nicht einmal mehr Ich sagen darf: eines Es, über das verhandelt wird zwischen Männern?
Es ist ein grauenhafte Art double bind. Du denkst sagen zu müssen: „Nein. Ich bin kein Ding.“ Es ist eine grauenhafte Erfahrung, zu merken, dass man ein Objekt unter anderen Objekten ist, ein Ding unter anderen Dingen, in Bezug auf diejenigen, die über genau diese Unterscheidung zwischen Menschlichkeit und Dinglichkeit bestimmen dürfen. Allerdings ist das Manöver, das dir abverlangt, diese Menschlichkeit einzufordern, ebenso grauenvoll, eben weil es dieses Desaster möglicherweise noch wiederholt und verfestigt.
Nach Auffassung unserer Kultuträger soll dieses Es ohne Rest in einem neuen homogenen Ich aufgehen lernen. Die ewige Quelle von Unordnung wäre damit beseitigt. Am Schluß von Ingeborg Bachmanns Roman Malina ist das weibliche Ich verschwunden: ein normaler Prozeß, der Prozeß der weiblichen Sozialisation. Was jedoch aus der Perspektive der Gesellschaft als gelungene Normalisierung erscheint, wird bei Bachmann, im Sinne des Pariabewußtseins, zur Anklage gegen die Gesellschaft. „Ich habe kein Geschlecht, keines mehr, man hat es mir herausgerissen.“ Die weibliche Sozialisation wird als Verbrechen an der Frau, als Prozeß der Vernichtung dargestellt. „Es war Mord“ lautet der letzte Satz des Romans Malina.