Nullerjahre
Tschüss, Idee!
Hör zu was das Dasein ist.
Richt den Blick auf den Ort.
Wo bin ich?
Und nicht: wer bin ich?
Der Raum, der dich umschliesst.
Dich und die anderen Ausgeschlossenen.
Dieser Raum ist nie einheitlich oder homogen.
Er ist nicht summierbar.
Er lässt sich aufteilen.
Er lässt sich falten.
Er ist katastrophal.
Pine sitzt gelassen in einem Bürozimmer, den Detektiven des Kulturkaufhauses gegenüber, Ende, Tasten, Tasten, Absatz, weitere Tasten, vieles, einiges mehr, bis es endlich ausformuliert ist, vis-a-vis, still und heimlich ausgelacht, schon geschämt, wegen des Geldes, wegen der Summe, dann gedacht, möglicherweise ist das doch piepegal, erst rechtens, so im Nachhinein als Geschichte erzählt, so humorvoll eingeschoben, zwischen dem Kauen von Kokablättern, Mitbringsel des Schriftstellers N., der Südamerika bereiste, und vor dem Mittagessen und dem Wein, und einiges vor der 10-jährigen Jubiläumsaufführung eines mittelmäßigen – aber erfolgreichen – Theaterstückes, aber ehrlich, ehrlich gesagt, Pine sitzt gelassen im Büro, Detektive gegenüber, na ja, also dazwischen, inmitten eines ereignisreichen Tages, einmal für kurz vor den äugenden Detektiven sitzen, warten bis die Polizei kommt, weil ja gestohlen wurde, im Kulturkaufhaus!, wofür es fairerweise Hausverbot gibt, aber nur ein Jahr, was bald vorbei ist, und die anderen Dussmann-Filialen wollen nichts davon wissen, vom Warenwert und so, eh eine Lappalie … Euro 40.95, keine Summe eigentlich … trotzdem, der Fall ist eindeutig, Diebstahl, und was dann?
Was denn?, ja, Bücher halt, Benn und Benjamin. Wer jetzt den Inhalt der Bücher vorne anstellt, der vergisst, dem Detektiv ist das schnurzegal, als er das Gesicht kratzt, als er das Formular, den P-A-P-I-E-R-K-R-A-M erledigt, ruppige Tippfinger, Tasten, Tasten, viel zu viele Tasten, so soll das einer machen, denkt Pine und schämt sich ein Quäntchen weniger, schon weniger.
Oh oh, sitzen im Büro, auf die Polizei warten, die muss benachrichtigt werden, da kommt man nicht drum rum.
Wenn das wirklich so ist und sie sind tatsächlich Erstlingstäter, sagt der Detektiv, ganz lieb, dann wird die Anzeige, und das ganz bestimmt, gute Miene, auch wieder fallen gelassen, nun ja, dann also kein Problem, jetzt die Sensoren einstellen, beobachten, bloss nicht arrogant wirken, aber ebenso wenig eingeschüchtert, was überzeugt?
Konsequente, unparteiische Freundlichkeit.
Als wäre er unabhängiger Zuschauer der eigenen Verhaftung, sozusagen, stilles Objekt und ein kleines Geschenk.
Ach, die Polizei kommt bestimmt, und schon geraten die Blickwinkel durcheinander, aber das liegt in der Natur des Textes, samthandschuhhaft angefasst, die Polizei schnappt sich Pine, berührt und durchsucht ihn, findet 350 Euro in der Hosentasche, ach, sagen die, dann hätte er ja die gestohlenen Bücher problemlos bezahlen, die Summe also leichterhand begleichen können, wird ihm nett erklärt, hatte er doch nicht aus Notwendigkeit gestohlen.
Hab ich aber doch, denkt er, nun mal schön aus der Ich-Perspektive und ich wünsche mir es wäre wieder Gestern.
Warum wurde ich krank?
Habe ich mich verwandelt?
Bin ich etwa anders?
Und wie habe ich mich in so schneller Zeit erholen können? Statt mich aufzumuntern, verlangsamt das spärliche Sonnenlicht und zerbeisst die Vergangenheit. Diese Pisswichser. Kein Wunder löst das körperliche Beschwerden aus, darauf will hier aber nicht eingegangen werden, höchstens, dass möglicherweise ein Zusammenhang mit den neu verschriebenen Tabletten existiert, das soll gesagt werden.
Die neuen Tabletten sind schuld. Irgendwas eingenommen. Irgendwas geschluckt.
Dazu vermehren sich die aufzählbaren Veränderungen. Überall um ihn und uns herum.
Augen aufgesperrt, nur nicht abwesend erscheinen. Der Polizist fummelt weiter an der Jacke herum, findet ein Reclam Heft, Tschechow jetzt, aber nein, das ist nicht gestohlen, geb ich auch und gern zu, das hat mir gehört, oder auch nicht, aber ausgeliehen, jedenfalls nicht aus dem KULTURKAUFHAUS, eine Erinnerung erwacht und das fühlt sich an wie ein Erschiessungskommando, blöde Erinnerungen, plötzlich erscheinen sie glasklar und knechten die Gedanken: Marthas Wohnung, die Bücher, das geteilte Bett und die überall herumliegenden hölzernen Postkarten von Jenny Holzer, öde Truisms, „private property creates crime“, das stand auf einer und dann sehe ich an meinem Körper runter, seh den Pullover den ich von Martha geliehen und absichtlich nie zurückgegeben hatte, heimlich eigentlich, weiss sie doch nichts davon, gestohlen eigentlich, hatte ich mich doch wochenlang in ihrer Wohnung verschanzt.
„skateboarding is not a crime“ behauptet der Pulli-Aufdruck und ich frag mich, ob die Polizisten das lesen, als der eine gerade eine zerdrückte Packung Medikamente aus meiner Jacke fischt, darauf steht in kursiven Grossbuchstaben:
A-N-T-I-D-E-P-R-E-S-S-I-V-A.
Woraufhin ich überleg, was ich davon halte, dass der das liest und merk, dass meine Laune erstaunlich gut ist.
Dann werde ich abgeführt.
Im Wagen wird Platz gemacht. Achtung, da die Weste, die schusssichere, die so weiß aussieht, als könnte sie nichts und dann noch die Flasche Pepsi Cola, sagt der Polizist zum Beamten und ich denk mir, Polizisten trinken also gern Pepsi Cola. Sind meine Vorurteile rassistisch, wenn ich das denke?
Los, los, anschnallen.
Sonst werden die Beamten zur Kasse gebeten, ich lächle.
Reisepass Schweiz, Tätigkeit: Assistent der Textredaktion, einfach gesagt, Journalist.
Sie halten sich in Berlin auf?
Der Rücken lehnt im Sessel, wippt, ich sitze weiter hinten, rechts vorne der Partner, der Beamte. Das elendige Getippse hallt durch den Raum. Mehrmals geht die Tür auf, der Beamte oder der Polizist, zeigt an, nein, Zimmer besetzt.
Bis Feierabend wird gearbeitet.
Das heisst, die eine Vernehmung machen wir noch.
Wirklich?, fragt der Polizist, ja sagt der Beamte, ist doch gleich gemacht. Also sie, was arbeiten sie eigentlich, also zurzeit, nun ja, antworte ich, ich bin Journalist, wissen sie, heutzutage, werden Texte für das Internet und so geschrieben, das ist meistens superkurz, das Sprache auf die Länge einer Bildunterschrift verknappt wird, das Verhältnis zwischen Bildern und Sprache, das wird eindeutig skizziert, das Positive daran, wenn ich täglich zur Textchefin zitiert werde, wenn ich sie bückend ausgedruckte Magazinseiten kontrollieren sehe und sie mit dem Rotstift Kreise zieht und an jeder Stelle was streicht, bin ich schüchtern und aufgeregt, weil sie sich leicht erregt, wenn sie überflüssige Worte und nicht funktionierende Verben entdeckt.
Ich denk niemand hat Zeit für sowas. In einigen Zeilen Text muss alles stimmen, jedes Wort, jedes Komma, unabhängig davon, ob es bloss eine Bildunterschrift ist.
Dankeschön.
Wir leben im Zeitalter des Aphorismus. Das heisst nicht, dass das meiste Geschriebene wieder vergessen wird.
Aber nachdem der Roman und das Essay ihre Leitmedienfunktion längst abgegeben haben, sind es heutzutage die knappen Sätze und Bildkonstruktionen, mit Bildern vereinte Worte, welche am meisten Reichweite zu versprechen behaupten, diese spärlichen Verkürzungen bilden heute meine Meinung.
Die Wahrheit wird auf ein paar wenige Sätze reduziert und die Skepsis, mit der ich ihr begegnen, bildet die Eleganz der Angst.
Der Job, vermittelt von einem Freund, ist eigentlich ein Traum, Schreiben ist immer das Ziel, so bin ich ruckartig in den Journalismus abgerutscht, das sag ich und fühl mich schlecht, weil ich der Polizei ins Gesicht lüge, wird hier nicht die Wahrheit aufgetischt? Die Geschwindigkeit mit der man sich für die Lüge entscheidet, ist bei ein paar Sätzen, um einiges geschwinder als bei hundert Seiten.
Sie arbeiten in einem Verlag?
Warum haben sie das getan?
Warum haben sie Bücher gestohlen?
Ja.
Das heisst, sie lesen gern, sagt er und ich denk in diesem Moment, es war auch ein Buch dabei, das wollte ich bestimmt nicht lesen, nur haben wollte ich es, so gut sieht das aus, der Umschlag und alles, außerdem ist der Titel lustig:
Irrgarten der Intelligenz.
Faden verloren, denke ich, der Polizist sieht mich an, bevor er wieder zum Beamten und dann wieder ganz nett wird, diese chaotische Wiederholungsschlaufe.
Warum?
Das kann ich ihnen wirklich nicht erklären, glaube ich, sage ich. Chronische Konzentrationsschwäche:
weder Lesen noch Zählen geht.
Was absurderweise den Besitz von Büchern und deren illegale Inbesitznahme redundant macht.
Aber Reue müssen sie zeigen und Geld zahlen, weil sie sich ja bald zurück in die Schweiz verziehen, er sagt tatsächlich verziehen, also gut, gut, ich zahle, wie viel?
290.- Euro.
Punkt.
Och, und mit ins Protokoll aufgenommen: Es war eine unerwartete Kurzschlusshandlung, es tut mir leid – wirklich – und ich bereue es. Das ist die Wahrheit. Auch wenn das bestimmt im Nachhinein nicht so klingt. Aber ich muss es verdauen. Nicht nur das Publikum.
Absagen, mehr Absagen, den ganzen Tag lang. Mit jedem Mal wird eine Idee verabschiedet.
Bis dann, denk ich.
Schön, dass es dich gab, du Idee.