Stirbt der Mensch als Künstler - Teil 2
Der hoffnungsvolle Berliner Junggalerist Ole Borghaus ist am Morgen nach der Vernissage seiner Künstlerin Ines Cremer in der Londoner Galerie Eins erwürgt in seinem Wagen aufgefunden worden.
Die mit dem Fall befaßte Kriminalkommissarin Hanna Forester schließt zunächst ein Sexualverbrechen nicht aus.
Doch als sie, um den Fall zu rekonstruieren, die Galerie Eins aufsucht, ist dort das Büro verwüstet und zwei Bilder fehlen. Sowohl der Galerist Eins, als auch seine Assistentin Anne Fecter scheint der Vorfall nicht zu beunruhigen. Sie beide, die Künstlerin Ines Cremer und der ebenfalls mit der Galerie assoziierte Künstler Lindsay Hudson verbindet ein Geheimnis, auf dessen Spuren sich Hanna immer stärker in die Londoner Kunstwelt verstrickt.
Der Verdächtigenkreis scheint sich auf die Tischgesellschaft am Vorabend im feinen Restaurant Caravelle einzuengen. Galeristen, Künstler und Personen, die Hanna aus den Gesellschaftsseiten der Vogue kennt.
Und was war mit dem Zettel gemeint, den Hanna in der Galerie Eins gefunden hatte. Sie entfaltete ihn und las:
Stirbt der Mensch als Künstler
Ines Cremer, denn es war die Stimme von Ines Cremer am anderen Ende der Leitung, hörte sich fast erleichtert an: “Sie sind es. Sie fragen mich wirklich immer Sachen, die ich nicht beantworten kann. Haben Sie immer noch nicht begriffen, daß wir hier alle” - sie stockte - “produziert werden. Natürlich könnte ich mir denken, daß ich etwas tue oder zumindest tun möchte, aber es ist mir schon vor langer Zeit klar gemacht worden, daß meine Handlungen nur real sind, wenn sie von jemand anderen verkauft werden können.
Falls ich also so etwas geschrieben habe, dann wahrscheinlich, weil es jemand von mir wollte.”
“Ich bin müde”, hörte sich Hanna sagen “und Sie mögen mich für blöd halten, aber bitte erinnern Sie sich, warum Sie das geschrieben haben.”
“Fragen Sie Lindsay”, sagte Ines kurz; “Sie finden ihn heute am abend im Marcys. Eins gibt eine Dinnerparty. Ich werde da sein. Sie werden überhaupt einige Leute kennenlernen, die Ihnen mehr sagen können als ich.”
Hanna hängte den Hörer ein. Nichts, nichts wurde klarer. In ihrem Kopf gab es eine Karte, auf der die Orte verzeichnet waren, an die sie sich in solchen Situationen zurückzog. Sie durchforstete den imaginären Lageplan. Nein, es würde nicht weit sein. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und lenkte ihre Schritte auf das drei Blocks entfernte Ziel. Vor den Lokalen bildeten sich erste Grüppchen und begannen Bier trinkend den Feierabend. Zwei Minuten später erreichte sie ihr Ziel. Das Studio warb momentan mit dem Slogan: “Eine Oase für Risikounternehmer”. Die Frau am Tresen erkannte sie. In London alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Aber die blaßhäutige Ermittlerin war auch im Sommer ein regelmäßiger Gast gewesen. Obwohl die gelbe Einrichtung mit dem Charme eines Ferienclubs schon ein wenig Patina angesetzt hatte, führte man hier immer noch die neuesten Maschinen. Hanna zögerte einen Moment, erlaubte sich dann aber den Luxus einer halben Stunde und des neuesten Turbos. Sie ließ sich ein zweites Handtuch geben und huschte in die ihr zugewiesene Kabine. Sie breitete das Tuch aus und legte sich in den Lichtsarg. Obwohl sie gegen eine gesündere Gesichtsfarbe nichts einzuwenden gehabt hätte, legte sie immer ein Handtuch über ihr Gesicht, um so zu vermeiden, daß jemand von ihrer Methode, Anflüge von Verzweiflung zu bekämpfen, etwas erfuhr.
Sie fürchtete, auch an diesem Fall würden es wieder einmal ganz andere Dinge sein, die ihr Interesse weckten, als den Täter zu finden. Andererseits hatte sie sich oft genug in das richtige Detail verliebt und war so zum Ziel gekommen. In diesem Moment schellte ihr Handy. Sie drückte die Empfangstaste. Robert, ihr Assistent, war am anderen Ende und begann sofort zu sprechen: “Die Leiche von heute früh entwickelt sich zu einem dicken Fisch. Hier hat schon ein halbes Dutzend Journalisten angerufen. Wo steckst Du überhaupt?”
“Ich war in der Galerie.”
“Die sagten, Du seiest schon länger weg. Wo bist Du eigentlich, das brummt ja wie blöd.” Hanna zuckte zusammen, sie beendete das Gespräch schnell aus Angst vor dem verräterischen Klingeln der abgelaufenen Sonnenbankzeit.
Sie glaubte, sich heute schon ein dickes Fell zugelegt zu haben und beschloß nun, Seven Smith anzurufen. Smith war eine der mythischen Figuren ihrer Jugend gewesen. Noch heute besuchte sie manchmal in der Frühstückspause eine seiner Webpages im Internet. Die Geheimnummer hatte sie in der Galerie von Anne Fecter bekommen. Sie rief von der Straße aus einer Telefonzelle an. Als sie eben wieder einhängen wollte, erklang am anderen Ende der Leitung eine freundliche Stimme: “Ja bitte”. Hanna, korrekt mit Nennung ihres Dienstgrads, erklärte ihm den Sachverhalt. Zu ihrer Überraschung war Seven Smith sofort zu einem Gespräch bereit. Smiths Penthouse lag mitten in der Londoner City. Sie drückte auf dem namenlosen Klingelschild das vereinbarte Zeichen. Nach einigen Sekunden ertönte das Schnarren des Türöffners. Smith stand in der Tür, als sie oben ankam. Sie hatte sieben seiner Platten und sie mochte seinen Händedruck. “Unangenehme Angelegenheit”, sagte er. Hanna blickte sich interessiert im Raum um. Das war offensichtlich kein Ort, an dem jemand wohnte. Sie erinnerte sich gelesen zu haben, daß er am Land lebte. Kinder, von Kindern hatte sie gelesen. Der Raum, in den sie geführt wurde, schien unbewohnt, so, als wäre er vor einer halben Stunde das erste Mal betreten worden.
“Kannten Sie Borghaus schon länger?”
“Dann hätten wir gestern wohl kaum miteinander gesprochen.”
Hier wurde sie nicht mit Freundlichkeiten aufgehalten. Smith schien nicht viel von Ole Borghaus zu halten.
“Sie mochten ihn nicht?”
Smith sah sie zweifelnd an. In Wirklichkeit konnte er sich an Borghaus kaum erinnern. Es schien ihm, als könne er sich an kaum jemand erinnern, den er in den letzten Jahren angeblich kennengelernt hatte. Manchmal kam es ihm vor, als sei damals bei der Blutwäsche in dem Schweizer Sanatorium ein Fehler passiert. Eine fremde Person hatte seinen Körper betreten und seitdem mußte er, ob er wollte oder nicht, sich mit ihr auseinandersetzen, was einen Großteil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
“Er war laut. Er war, glaube ich, schrecklich betrunken.”
Darüber wollte Hanna mehr wissen.
Aber Seven Smith, der auch das nur mehr wußte, weil Borghaus ihm den Weg versperrt hatte, als er gehen wollte, konnte ihr nicht mehr sagen.
Wenn er abends ausging, was nur noch selten vorkam, gab es immer jemanden, der sich am Boden wälzte, jemand, der nach jemanden trat, Geschrei. Er hatte angefangen, sich für Kunst zu interessieren, weil ihm dieses Gehabe so wenigstens einen Rahmen zu haben schien. Es ging um etwas, um Kunst, um Machtzuwachs, von dem er annahm, daß er eine ideelle Seite hätte.
“Besitzen Sie eine Arbeit von Ines Cremer?” fragte Hanna.
Ja, er hatte auch Cremer.
Er bedauerte, das meiste war auf dem Land. Aber es gab doch einiges, was er ihr gern zeigen wollte.
Hanna, die ihn nur auf den Mordfall zurückbringen hatte wollen, fand sich plötzlich im Nebenraum, einem langen Monolog gegenüber, angefüllt mit Namen, die sie nicht kannte.
Sie sah zerschnittene Kühe, Bilder aus Handabdrücken, Schaufensterpuppen mit Genitalien im Gesicht, schwimmende Basketbälle, zerfledderte Kostüme, wie aus einem Spielfilm geliehen. Beine ragten aus der Wand, Bonbons lagen am Boden.
Sie ging verwirrt.
Der Tag schien nicht enden zu wollen. Sie sehnte sich in ihr Büro, in diese klare korrupte Welt aus Kaffeetassen und Zigarettenrauch. Sie hatte diesen Beruf gewählt, weil sie Uniformen liebte. Schon als Jugendliche hatte sie für das kleine Postamt ihrer Eltern, das diese gleich nach der Privatisierung eröffnet hatten, Briefe ausgetragen. Diese Position, von allen auf der Straße gleich erkannt zu werden, eine Kontinuität darzustellen, hatte etwas in ihr bewirkt. Seitdem trug sie das Bewußtsein mit sich herum, daß gerade in diesen Konstanten, die das öffentliche Leben ausmachen, die größten Untiefen und Fallen lägen. Alle diese Geheimnisse, die sie mit sich herumtrug, und alle diese Geschichten, die in ihr brodelten, die sie aus der Zeitung kannte. Postboten, die jahrelang Briefe gehortet hatten, ganze Halden von Briefen in ihren Zimmern liegenließen, bis sie selbst darin starben.
Seit Jahren, seit sie bei der Polizei war, hatte sie nun den Eindruck auch sie würde solche Halden an nicht abgeschickten Briefen in ihrem Gedächtnis speichern. Erzählungen, die nicht ihren Adressaten, sondern die Polizei erreichten. Privates, das sich in Öffentliches wandelte, daß schleichend Gesellschaft bildete. Taten, die die öffentliche Einstellung zu Frauen prägten, gesellschaftliche Erzählungen, die Kind, Rauschgiftsüchtiger oder Wirtschaftskrimineller hießen.
*
Lindsay Hudson fuhr in diesem Moment mit der U-Bahn zu der Dinnerparty. Die vertraute Handlung befreite ihn für kurze Zeit aus den Gedanken, die ihn den ganzen Tag beherrscht hatten. Selbst als er für zwei Stunden eingeschlafen war, war ihm, als habe er unaufhörlich über das Ende der letzten Nacht nachgedacht. Im Halbschlaf, denn ein Traum war es nicht gewesen, war es ihm erschienen, als sei er in den Körper von Borghaus gestiegen und erwacht, als sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzog.
Nun stellte sich die übliche, ihm immer etwas unangenehme Situation ein, wieder einmal allein auf einer Veranstaltung zu erscheinen. Seit Jahren fühlte er sich zur Einsamkeit verurteilt. Sein Hang zum Mondänen, zu teuren Hotels, zu den besten Restaurants, half ihm gelegentlich, dies für ein paar Stunden zu vergessen. Nicht daß man dort weniger isoliert war, aber Hudson konnte sich an diesen Orten in seine Kindheit zurückträumen. Seine Eltern waren vor elf Jahren bei einer Autofahrt ums Leben gekommen. Die Kindheit, für die er bis heute noch keine überzeugende Fortsetzung gefunden hatte, hatte so ein abruptes Ende gefunden. Er hatte geerbt, aber weniger als erwartet und war wohl mit einigen Anlagefonds nicht sonderlich geschickt umgegangen. Was vom familiären Vermögen übrig geblieben war, erlaubte ihm nur einen bescheidenen Alltag. Manchmal schlug er über die Stränge und war im daraus entstandenen Budgetloch dann wirklich arm. Aber zumindest konnte er immer noch in dem Haus wohnen und gelegentlich ein Glas Supermarkt-Kaviar, natürlich nur den roten, löffeln.
Mit seiner Kunst verdiente er nichts, was der Rede wert gewesen wäre, und andere Einkünfte hielt er für ein Karrierehindernis oder hatte eigentlich keine Idee, woher sie kommen könnten. Auch fühlte er sich weiterhin der sentimentalen Maxime des `Arbeite nie´ verpflichtet. Wenn ihn der Zustand der längeren Abwesenheit von Situationen, die ihm eine Versenkung in der Erinnerung erlaubten, oder schlicht der Mangel an aus Kindertagen vertrautem Luxus wieder einmal zu sehr bedrückten, legte er sich für Wochen ins Bett oder schrieb vertrackte Oscar Wilde Exegesen für Zeitschriften in kleinen Auflagen. Zu lesen schien sie kaum jemand, aber man hielt ihn allein aus dem Wissen um diese Texte für intelligent.
Die Logik der Zahlen hatte Borghaus’ Tod gefordert!
Meist verbrachte er die melancholischen Phasen der Antriebslosigkeit, die die Mehrheit seiner Lebenszeit besetzten, mit der Entwicklung von Ordnungssystemen. Tagelang sortierte er die auf kleinen Zetteln notierten Telefonnummern von Menschen, die er in den vorherigen Monaten kennengelernt hatte. Er versuchte, Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Gruppierungen herauszuarbeiten. Hatte er sich für eine bestimmte Formation entschieden, was Tage und Wochen dauern konnte, fixierte er diese mit Tesafilm. Das Betrachten dieser Flickenteppiche aus Namen und Zahlen auf wechselnden Papierqualitäten gab ihm ein angenehmes Gefühl, wie andere es wohl beim Betrachten von Stadtplänen oder Wanderkarten verspüren. Jede der Nummern in diesem System stand für eine Figur in diesem freudlosen Spiel, dem `Betrieb´, zu dem es sie alle mit einer merkwürdigen Hingabe hinzog.
Er hatte sich im Verlaufe des Tages neu beschriftet. In sauberen Blockbuchstaben zog sich an der Oberkante seines Hemdes der Satz entlang, “Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi”. Die Auswahl seiner Kleidung ließ aber nicht darauf schließen, daß er damit Entschiedenheit meinte. Er, der sonst soviel Wert auf sein Äußeres legte, war heute einfach zu beschäftigt gewesen, um das Richtige im Schrank zu finden. Während er den Bahnhof verließ, wechselten seine Gedanken von seinem ständigen Thema, der Beschäftigung mit der eigenen Biographie, zu dem Todesfall am Anfang dieses Tages. Ja, in gewisser Hinsicht war es nicht Mord gewesen, sondern etwas, das zwangsläufig passieren mußte. Hudson hatte sich dieser Feststellung mehrmals vergewissert, in dem er wieder und wieder die mit dem Toten verwobenen Nummerngewebe untersuchte. Er hatte mehrere Bögen mit Berechnungen der vielstelligen Zahlen gefüllt. Kein Subjekt hatte Borghaus Tod verursacht, sondern die Logik der Zahlen ihr Recht gefordert. Oberflächlich mochte es so wirken, als sei Borghaus in den Strudel der konkurrierenden Kunststandorte, London und Berlin, geraten, er aber wußte, daß dem nicht so war. Eigentlich ahnte er gestern schon, daß Borghaus in Gefahr war. Er hatte auch versucht mit ihm darüber zu sprechen, aber dieser stumpfe Mensch war nur wütend geworden.
In diesem Moment erreichte er das Restaurant, nannte dem Türsteher seinen Namen und wurde hineingelassen.
Eins großer Kopf schwoll puterrot an. Nach Luft röchelnd schien es ihm, als würde das Tapetenmuster des Zimmers ein dreidimensionales Ornament bilden. Jemand drehte das Radio lauter. Wie ein Fisch schnappte er noch einmal nach Luft. Sein Kopf begann zu zucken, wollte sich befreien, die Schlaufe um seinen Hals ließ es aber nicht zu. Die Tapete löste sich jetzt in einen Farbennebel auf. Verzweifelt schloß er die Augen und überließ sich erschöpft seinem Schicksal. Eins erkannte das Heck eines Flugzeugs, das ihn an einer Hundeleine mit in den Himmel zog. In diesem Moment lösten sich der Taumel der Bilder in einen Glutball auf.
Die Frau, eigentlich war sie noch ein Mädchen, das er seit 3 Jahren zu einer immer perfekteren Ausführung dieses Vorgangs erzogen hatte, war schon gegangen, als er wieder aufwachte. Wie immer hatte sie die Fesseln vorher gelöst, obwohl er sich oft wünschte, sie würde dies vergessen. Aber soviel erlaubte er sich doch nicht. Er prüfte, ob sie seinen Anweisungen gemäß alle Spuren der Ejakulation beseitigt hatte. Noch einmal schloß er die Augen und sah sie beim Reinigen seines Schwanzes. Wie immer hatte sie mehr Geld als vereinbart aus seiner Brieftasche genommen. Er liebte die Inszenierung seines Selbstbetruges. Befriedigt betrachtete er die Verunstaltungen an seinem Hals. Während der nächsten Woche würde er wohl einen Rollkragenpullover tragen müssen. Alle glaubten, er interessiere sich nur für Kunst oder Geld, dabei waren es diese wenigen Stunden im Hotel, die ihn am Leben erhielten ... Das reicht für heute,” unterbrach Eins das Diktat. Anne Fecters über die Tastatur huschende Finger bildeten noch ein abstraktes Echo, während er laut darüber nachdachte, ob er sich in der unter einem Pseudonym verfaßten Enthüllungsgeschichte über sich selbst nicht doch als asexuell schildern sollte. Quasi als Identifikationsfigur, “denn wer hat heute noch Sex. Vielleicht ist Sex schon so sehr aus der Mode gekommen, daß man Leute nicht einmal mehr damit neidisch machen kann, wenn man behauptet, man hätte noch welchen.” Anne ging auf diese Überlegung nicht weiter ein, sondern sagte mit Blick auf die Uhr, daß es Zeit sei, ein Taxi zu nehmen.
*
In ihrem Hotelzimmer ordnete Ines Cremer die Aufzeichnungen des Tages. Normalerweise hätte sie jetzt das übliche Fax, mit den Beobachtungen ihrer Person in den letzten 24 Stunden an Ole Borghaus geschickt. Um diese Zeit trafen für gewöhnlich auch seine Korrekturen ihrer Arbeit vom Vortag ein. Sie ging durch eine merkwürdige Leerstelle. Cremer wußte nicht, wie es nun weitergehen sollte. Wie ein zu oft im Radio gehörter Hit klangen ihr die Worte von Borghaus im Ohr: “Deine Bilder kosten jetzt 22tausend, das ist cool, aber es ist nicht save. London war gut als Promotion, bringt aber kein Geld.” Ole war in letzter Zeit immer nervöser geworden, da Ines zwar eine Ausstellung nach der anderen hatte, aber ihre Bilder einfach nicht über 25tausend kamen. Er hatte alles auf die Berliner Messe gesetzt, die aber floppte, da die Eröffnung auf einen jüdischen Feiertag gelegt worden war, sodaß das Gros der amerikanischen Sammler ausgeblieben war.
Künstler bei der Marke von 25tausend konnten jederzeit wieder abstürzen, solche Investitionen verrechnete die Kundschaft mit der Portokasse. Erst von 30tausend aufwärts waren die wesentlichen Sammler interessiert, sie zu halten. Sollte jetzt, nach Oles Tod, alles umsonst gewesen sein?
Es klingelte. Hannes Frey war eingetroffen. Er teilte ihr aus einer Telefonzelle in der Lobby des Hotels mit, daß er sie an Stelle von Ole zu der Einladung heute abend begleiten würde. Es waren die ersten Sätze, die die beiden seit Monaten miteinander sprachen. Sie mochten sich nicht, würden nun aber wohl miteinander arbeiten müssen.
Hannes sagte, er wolle sich noch einmal frisch machen und das zumindest einmal an diesem Abend nicht auf einer Toilette. Die bei Marcys waren zwar perfekt auf seine Bedürfnisse hin zugeschnitten - er war kein außergewöhnlicher Kunde, aber jetzt wollte er noch einmal auf ihr Zimmer kommen. Da sie sich immer noch wacklig auf den Beinen fühlte, war ihr sein Kommen ganz recht.
Er ließ die Bankomatkarte, mit der er die Linien gezogen hatte, an seiner Zunge entlanggleiten. Für einen Moment schien es Ines so, als nähmen seine Lippen eine blaue Farbe an. Beide schwiegen. Das Angenehme mit Hannes war, daß er nicht dieses Zeug plapperte, das alle angesichts der weißen Linien von sich gaben; es würde den Charakter verderben und daß es mies sei, während ihre Gesichter sich vor Gier gar nicht einkriegen konnten.
Hannes war Pragmatiker, zu ihm paßte die damit verbundene Form der Effizienz und Kalkulierbarkeit. Daß er sein Umfeld als immer feindlicher betrachtete, schien ihm vor allem der Preis für seine Karriere. Auch erwartete kaum jemand von ihm, daß er sich als netter Typ aufführte.
Für Ines war die Droge ein Durchhaltemittel gegen die an jeder Ecke lauernden Zusammenbrüche. Sie hatte bemerkt, daß es in ihr Abgründe öffnete, aber deren Perspektiven blieben immer an der Oberfläche. Es hielt ihre Lust an Systematik in Gang. Manchmal stellte sie sich vor, über Monate nur zu koksen, um als weißer Zombie tiefer in diese ihr geheimnisvollen Obsessionen einzudringen.
Hinter den Gesichtern machte sich ein Gefühl von frisch gewaschener Wäsche breit, aus dem sie wie Kühlschränke schauten. Sie machten sich zügig auf den Weg und fraßen im Taxi Zigaretten.
“Hannes, Ole ist tot. Wir haben nicht darüber gesprochen.” Ohne sie anzusehen sagte er: “Ja. Ich habe mir vorhin eine Pistole gekauft. Ich habe Angst. Wir sind in etwas hineingeraten, was wir nicht mehr im Griff haben.” In diesem Moment erreichten sie das Restaurant.
*
Marcys war eines jener Restaurants, das vorbeieilende Passanten wahrscheinlich für einen Kettenchinesen halten würden, von denen London voll war. Auch die, die aus Vogue oder Marie Claire die Namen von Restaurants mitschrieben, die man bei einem Besuch nicht missen durfte - (Kate könnte kommen - und - unbedingt reservieren) - hätten sich mit Hilfe der Hausnummer nochmals vergewissert, ob nicht doch ein geheimes, weniger grelles erstes Obergeschoß in der Beschreibung gemeint war. Der abweisend unkonzentrierte Blick des am Eingang postierten Türstehers hätte sie jedoch bald versichert, daß sie richtig waren.
Richtig hieß bei Marcys aber noch nicht angekommen. Durch das ganze Lokal, so überschaubar es wirkte, zogen sich unsichtbare, aber machtvolle Demarkationslinien, die Bedeutungen benannten.
Das Lokal hatte erst vor kurzem eröffnet, aber selbst Hanna hatte bereits genügend darüber gelesen, daß sie sich beim Öffnen der Tür einer Welle von Lampenfieber ausgesetzt sah.
“Ihr Name?”, mehr als zwei Schritte lang blieb man in Marcys nicht anonym.
Sie nannte ihn und er fand sich auf einer Liste, die diskret hinter der Bar lag.
Man händigte ihr eine Karte mit einer Nummer aus.
Hanna erinnerte sich, gelesen zu haben, daß man im Stehen immer besser als im Sitzen aussah und wandte sich zur Bar.
Das Lokal war noch fast leer, nur an den zwei jeweils entferntesten Tischen saßen bereits Menschen. Die Anordnung erwirkte den Eindruck, als hätten sie sich absichtlich voneinander entfernt hingesetzt und damit zwei Parteien markiert, in die nun ähnlich zweier Fußballmannschaften neue Mitglieder berufen würden.
Hinter ihrem Rücken kamen nun fast ununterbrochen Menschen in das Lokal.
“Gibt es hier ein Telefon?” fragte Hanna den Kellner.
Er wies sie in den Hintergrund des Raumes.
Sie fand eine Treppe, ein Untergeschoß mit einer weiteren Bar, wo ihr Blick über einige cocktailtrinkende Menschen glitt und die Telefonzelle.
“Wo bist du jetzt?”, Roberts Stimme.
“Immer noch in der Kunstwelt,” sagte Hanna, “bei Marcys.”
“Bring mir eine Streichholzschachtel mit, oder diese goldenen Klobrillen. Und was machst Du?”
“Mein Leben besteht aus einer langen Kette unzusammenhängender Begebenheiten. Gibt es bei Dir etwas Neues?”
“Vielleicht, eine Frau rief an und fragte, ob wir bei Borghaus ein Video gefunden hatten. Nun, ich wurde neugierig und fragte, was für ein Video sie meinte?”
“Und?”
“Sie meinte, es wäre eine Art Verkaufs Video und ich fragte noch ein bißchen und mehr kam nicht.”
“Kein Name?”
“Kein Name.”
“Nett von ihr zu glauben, wir wären ein Fundbüro. Der Ruf der Polizei verbessert sich. Weißt du etwas von einem Video?”
“Ja, jemandem scheint ein Video zu fehlen. Soviel wissen wir jetzt.”
Hanna hängte ein.
Als sie wieder hinaufkam, war das Lokal bis auf den letzten Platz gefüllt, am Eingang drängten sich noch weitere Menschen.
Sie sah Hudson im selben Moment wie er sie. Er hatte sich zur linken Fußballmannschaft gesellt. Er winkte sie heran, schob gleichzeitig seinen Sitznachbarn zur Seite, um ihr Platz zu machen und konnte auch noch einer dritten Person, die schräg gegenüber saß, ein Gesicht schneiden, das wohl heißen sollte: ja, schrecklich hier.
“Bitte kurz”, sagte sie statt einer Begrüßung. “Es ist weit nach Dienstschluß.”
“Ich dachte, Sie können das abrechnen. Das” - er kicherte - “uns Alle.”
Ein geheimnisvolles Video taucht auf
Jean-Marie Krauss hatte sich weit über den Tisch gebeugt. Der Lärm im Lokal hatte sich gesteigert und er wollte sich verständlich machen.
“Ich bin seit neuesten auf Kokain allergisch!”
“Das ist jeder, wenn er es nicht gewohnt ist, und zuviel nimmt.” antwortete ihm Thomas gelangweilt. Er war gerade von Lindsay Hudson, den er kaum kannte, an den Rand der Sitzbank gedrängt worden und versuchte in dieser unvorteilhaften Position eine gute Figur zu machen.
“Ich kriege Asthma!” wiederholte Jean Marie anklagend.
“Es ist wie Heuschnupfen,” sagte Thomas bestätigend, “ und vorher?” fragte er, “zahlt es sich aus? Dich finden doch ohnedies alle sympaticone. Das heißt, du sprichst doch von selbst.”
“Oh, ich habe durchaus Feinde!” sagte Jean Marie eitel, “Ines hat mich nicht gegrüßt.”
“Wer noch?”
“Ich dachte, die Aufgabe besteht darin, es selbst rauszufinden. Du darfst doch nicht mich fragen.” Er blickte auf. Eine Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt. Nach einigen kurzen Worten wendete er sich wieder Thomas zu, der einstweilen zustimmend jemandem zugegähnt hatte.
“Hat Dir Martha schon etwas über den Artikel über Be-Tween gesagt. Ich habe gehört, sie ist wütend.”
“Es ist eigenartig, alle sagen mir, es sei zu positiv und sie haßt es.”
“Warum schreibst Du überhaupt,” erkundigte er sich, “Du hast doch Geld?”
“Ich kann es so gut.” antwortete Thomas kurz. “Oder, es ist eine Kulturtechnik, welche Antwort gefällt Dir besser. Du kannst sie haben.”
“Hast Du gehört, Ole Borghaus ist umgebracht worden.”
Nein, das hatte Thomas noch nicht gehört. Er kannte ihn schon lange, aber er hatte nicht gedacht, in dieser fremden Stadt auf ihn zu treffen. Schon wieder auf ihn zu treffen.
“Ich bin ihm gestern auf der Straße begegnet, und er hat mich zu einem Abendessen mitgenommen,” sagte er. “Bist Du sicher?”
*
Zu Hannas Verwunderung hatte Lindsay Hudson sie sofort mit seiner linken Tischnachbarin bekannt gemacht. Er hatte dabei zwischen sich und ihr eine Vertraulichkeit etabliert, ihr die Hand auf den Arm gelegt und ihren Namen so ausgesprochen, als kannten sie sich schon seit Jahren. Mrs Jeffroy, der sie vorgestellt wurde, war älter als sie. Sie trug einen sehr genau geschnittenen Pagenkopf, der bei jeder Bewegung um ihren Kopf zirkelte.
“Sie waren auch gestern abend im Caravelle?” fragte Hanna.
“Sie sprechen über Borghaus? Wissen Sie, ich bin schon länger in diesem Geschäft und sehe das Ganze recht entspannt. Dieser Borghaus hatte keine Nerven dafür. Fand sich selber wohl auch nicht so toll, wie er sein wollte, sonst hätte er nicht so oft auf die Toilette gemußt. Sie werden ihn ja aufgeschnitten haben und wissen, womit er sich an Deck hielt. Sie mögen es taktlos finden, wie ich rede, aber ich bin einfach nur direkt. Mehr hat dieses Universum aus Fertigteilen auch nicht verdient.” In diesem Moment entdeckte Mrs Jeffroy ein bekanntes Gesicht und wandte sich von Hanna ab.
“Für mich hat sie auch einige Monate geschwärmt,” nahm Lindsay Hudson das Gespräch auf: “die Melancholie des numerischen Widerstandes. Irgendwann begann sie Zahlen und damit auch mich fad zu finden. Ich muß leider zugeben, der Verlust lag auf meiner Seite.”
Mrs Jeffroy hatte sich hinter dem Tisch herum geschoben und sich ein wenig demonstrativ entfernt. Auch Lindsay Hudson war aufgestanden, um entweder ihr nachzueilen oder etwas zu trinken zu holen, wie er sagte. Hanna fand sich kurz allein. Jemand, den sie nicht kannte, erklärte ihr unaufgefordert, daß es sich bei dem Mann, mit dem Mrs Jeffroy jetzt sprach um Timothy Burton, den schottischen Kunst-Star dieser Saison handle. ”Er versucht einmal pro Woche sich aus der Welt zu befördern und dokumentiert das. Mrs Jeffroy liebt Burtons Arbeit. Zumindest im Moment. Mein suizidaler Sommer, wie sie gern sagt. Ihre Lieben sind eher kurzfristig und launisch. Das Leben ist zu kurz, um sich zu binden. Ihre Ex-Geliebten sehen das meist weniger entspannt, fällt ihr Wert anschließend doch um die Hälfte. Mrs Jeffroys Leidenschaften haben Signalwirkung für den amerikanischen Markt.” Hanna sah noch einmal zu Mrs Jeffroy rüber, die verzückt an dem etwas überfordert wirkenden Burton herumtätschelte. Sie kicherte über Burtons Anzug. Das Ding sah aus, als entstamme es der glücklosen Klaue eines Marsmenschen, der Imitationen der Kleidung von Erdbewohnern herzustellen versuchte, die Orginale aber nur von unscharf flimmernden Bildschirmen kannte.
Timothy Burton war nun an der Reihe etwas zu sagen. Er nahm sich: “wir haben keine zeitgemäßen Sorgen, wie Freunde, die unter 200T-Zellen rutschen. Wir kennen nicht mal die Sehnsucht nach einer Zeit in der es noch Konventionen gab, die in die Luft gesprengt werden konnten,” weil er wußte, daß das schon mal gut gekommen war. “Kunst muß wieder Quelle werden, nicht nur Transmission. Sie müßte dazu beitragen, ein System lockerer Knoten, beziehungsweise dissipativer Codes zu erwirken.”
*
“Es würde mich nicht wundern, wenn Sie sich langweilen.” Eins hatte sich neben Hanna gestellt und war leicht in die Knie gegangen, um besser mit ihr reden zu können.
“In unserem Gewerbe wird weniger danach geurteilt, was man sieht, sondern was man hört. Meine Arbeit besteht darin, Namen in Umlauf zu bringen. Manchmal schreibe ich sie nur auf einen Zettel und drücke sie jemanden in die Hand. Meist bringe ich Gerüchte und Geschichten in Umlauf. von denen man nichts anderes als den Namen des Künstlers, von dem sie handeln, zu erinnern braucht. Deshalb wird meistens auf die Pointe verzichtet. Wir brauchen diese Spannung nicht, der Suspense kommt aus der Angst, kein Namen zu haben, von niemanden gesehen zu werden und nichts zu bedeuten. Machmal langweilt mich dieses Spiel zu Tode. Sie vermuten, meine Bankberaterin würde mich dann überzeugen, weiterhin solche Partys zu geben, aber das ist es nicht. Nicht wirklich. Ich studiere meine Gäste, es sind ja nicht nur Kunden. Es sind Versuchsanordnungen, die ich installiere. Vielleicht gehen wir beide sogar einer sehr ähnlichen Tätigkeit nach, nur werden sie mit einer Situation konfrontiert, während ich sie inszenieren kann.” Hanna fiel nichts zu seinen Worten ein, es war eher seine Mimik, die sie beschäftigte. Nichts von dem deprimierenden Zeug, das er erzählte, konnte scheinbar das Grinsen aus seinem Gesicht vertreiben. Es war das Lächeln eines Menschen, der mehr wußte als man selbst. Ein Lächeln, das geradezu nach Ärger schrie. Während er weiter sprach, stellte sie sich vor, dieses Grinsen an einer Hundeleine durch die Stadt zu führen. “Dort drüben steht meine Frau. Ist sie nicht wunderschön? Manchmal verstehe ich es selbst nicht, aber wir haben schon seit Monaten nicht mehr miteinander geschlafen.”
Hanna überlegte, warum ihr Eins dieses Geheimnis, zumindest konnte man es für ein solches halten, aufdrängte. Es konnte ganz einfache Gründe haben, aus denen Männer eben öfter so daher redeten. Aber sie vermutete, daß es um etwas anderes ging. Leute wie Eins erstarrten zu einer Salzsäule, wenn sie keine Motive hatten mit ihrem Gegenüber zu sprechen. Hanna war ein wenig beschämt von ihrer schroffen Einschätzung. Vielleicht waren solche dahin gesagten Intimitäten auch einfach seine Methode, Kontakt herzustellen, wenn es nicht um die konkrete Abwicklung eines Geschäftes ging. Er wollte ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Hanna lenkte das Gespräch auf etwas anderes: “Ich war heute nachmittag doch bei Ihnen in der Galerie”, meinte sie, “sieht Ihr Büro übrigens immer so aus?”
Eins lachte: “Freitags kommt manchmal eine Putzfrau.”
“Man hätte nicht den Eindruck haben können, eine Putzfrau würde da viel helfen!” entgegnete Hanna. “An wen haben Sie eigentlich die zwei Arbeiten von Ines Cremer verkauft? Die zwei fehlenden Blätter in ihrem Büro?”
“Hören Sie mir auf mit dieser Arbeit. Soll ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen? Eine blöde Geschichte. Borghaus hat die ganze Arbeit gestern Nacht verkauft, aber er irrt sich da, das heißt, er war im Irrtum, er könne das so einfach.”
“An wen verkauft?”
“An Sothebys, das heißt an Handes, den Galeristen Handes. Er arbeitet auch für Sothebys. Aber vergessen Sie’s. Borghaus konnte sie nicht verkaufen. Auf diese Arbeit hat er in London keine Option. Das habe ich ihm und Ines gestern auch deutlich gesagt. Und weil Anne die zwei Blätter haben wollte und weil ich mich ohnedies schon geärgert hatte, habe ich sie ihr heute einfach mitgegeben.”
“Anne hat die Blätter?” wiederholte Hanna verwundert.
“Ja, sie hat sie morgens mitgenommen. Dann wollte Ines Cremer sie heute unbedingt wiederhaben, die ganze Arbeit. Natürlich habe ich ihr nicht gesagt, daß ich sie jetzt einzeln verkaufe. Das soll ja als Serie gehen. Aber sehen Sie es als Kleinlichkeit, jedenfalls war ich heute früh ganz zufrieden, die zwei herzugeben.”
“Passiert das häufig, solche, hm, Mißverständnisse?”
“Ich kannte Borghaus kaum. Es gibt ja im allgemeinen Regeln, die wir alle kennen und manchmal funktioniert es auch, wenn man sich um die Regeln gar nicht schert. Das weiß ich und das wußte auch Borghaus. Und dann kann es auch wieder falsch sein, solche Regeln nicht einzuhalten. Das wäre dann ziemlich das letzte mal.
Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich spreche hier nicht über Leben und Tod. Es geht wohl manchmal um eine ganze Summe Geld, aber dann müßten sich Versicherungsvertreter auch ständig um die Ecke bringen.”
“Etwas erstaunt mich”, meinte Hanna, “wäre es für Handes billiger gewesen, diesen Handel ohne Sie zu machen?”
“Es ist eine blöde Geschichte, ich habe es schon gesagt. Nein, es ist unwahrscheinlich, daß Borghaus sie billiger verkauft hätte.”
Lindsay Hudson hatte schon eine Weile wieder in der Nähe des Tisches gestanden. Etwas wie ein autoritärer Bann ging aber von Eins aus, so daß er sich nicht genähert hatte. Erst als Hanna ihn ansah, kam er heran. Eins wandte sich an ihn: “Unser Freund Lindsay Hudson weiß darüber aber weitaus mehr als ich,” sagte er in einem Ton, der Hudson offensichtlich unbehaglich war. “Hudson arbeitet ja jetzt auch für Sothebys - leider unbezahlt, fürchte ich,” fügte er hinzu.
“Handes hatte mich bloß gebeten, etwas auszurichten”, erklärte Hudson eilig. “Ich hab doch nichts mit Borghaus zu tun.”
“Gut” sagte Hanna, “Neuigkeiten. Was sollten Sie ausrichten?”
“Handes bat mich, Borghaus zu sagen, daß er ihn um halb drei in der Suki- Bar erwarten würde. Ich wollte Ihnen das noch sagen, ich hatte Ihnen doch gesagt, es gäbe noch etwas.” Er verteidigte sich nach zwei Seiten.
“Und Borghaus ging um halb drei ins Suki.” stellte Hanna fest.
“Mit Ines!”
Hat Borghaus Bilder verkauft, die ihm nicht gehörten?
Hanna sah sich um. Ines Cremer stand drei Schritte hinter ihr. Hanna bemerkte, daß sie `Shalimar´ von Guerlain trug. Die leicht untersetzte Künstlerin erklärte gerade einer um sie stehenden Gruppe: “Man schreibt für gewöhnlich ein öffentliches Bild von sich und ein fremdes Gesicht sieht einen an. Diesen Mechanismus versuche ich in meiner Arbeit zu dekonstruieren, indem ich meine Autorenschaft abgebe an Menschen, die mich sehen.”
“Na!” sagte sie, Hanna war genau vor sie getreten, ihre Augen waren völlig ausdruckslos.
“Gestern um halb drei in der Suki-Bar, Sie waren da, Borghaus war da - was ist passiert?” fragte sie scharf.
“Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß ich mich nicht erinnern kann. Es ist ja schön, was Sie wissen. Meine Erinnerung hört irgendwann im Caravelle auf.”
Hanna nahm sie am Arm und zog sie beiseite. “Das heißt mir nichts, sich nicht erinnern. Wie hört das auf, das sich erinnern? Was ist dann?”
“Dann wollen immer Leute etwas von mir. Gestern wollte Handes etwas von mir kaufen, heute wollen Sie etwas darüber wissen. Borghaus und ich gingen wohin. Sie nennen das Suki. - Mag sein. Jemand der meine Arbeit kaufen wollte. Ich hätte die sicher nicht mehr verkaufen können. Ich machte eine ziemlich schlechte Figur. Also, ich kotzte auf den Teppich, auf dem ich stand. Nachher war natürlich vor allem ich selbst angeseiert. Ich hoffe, ich ging, bevor Borghaus und Handes sich richtig in die Haare kriegten. Vielleicht auch nicht. Später stehe ich wieder mit Borghaus irgendwo, sie nennen das Ucraine Lounge und er klopft mir auf die Schulter. Wir haben einen guten Preis gemacht. Arbeit ist verkauft. Ich glaube, der Typ wollte sie allerdings nur, weil er auf einem Foto abgebildet war. Ich würde sagen, daß ist ohnedies ein großer Vorteil meiner Arbeit, immer ist irgend jemand drauf, der das kaufen könnte.”
“Sie haben Handes in Ihrer Arbeit abgebildet?”
“Das wußte ich doch damals gar nicht! Das war einer der Tage mit Borghaus, die abgebildet wurden.”
“Die Arbeit, die jetzt bei Eins hängt?”
“Ja, mal war sie verkauft, jetzt ist sie nicht mehr verkauft. Dann kommt man zu Eins und er hat in einem Anfall, er hat so was ab und zu, sein Büro so zugerichtet, dann hat er Anne das Bild verkauft, wo der Typ drauf ist.”
Sie sprach ungefähr und wirkte betrunken, aber Hanna hatte das Gefühl, daß hier immer mehr kam, solange sie schüttelte.
“Handes und Borghaus kriegten sich in die Haare?”
“Nachher war alles wieder ok. Sie haben mich auch wirklich rausgeschickt. Ich war der lebende Beweis, daß ich existiere und daß ich diese Arbeit gemacht habe und den Rest machen die Galeristen allein aus.”
Hanna drehte sich zu Eins.
“Wo ist eigentlich Anne Fecter?” fragte sie in seine Richtung.
Sie sahen sich gemeinsam um, aber sie war im Lokal nicht zu sehen.
“Sie sollte längst hier sein, Anne ist eigentlich sehr zuverlässig. Ich rufe sie an.”
Ines sprach jetzt mit einem jungen Mann. Er hatte ein Gesicht, das einem gefiel, aber das man schwer wiedererkennen würde, wenn es einem in anderer Umgebung und - sozusagen - in anderen Kleidern begegnete
Hinter Hanna fiel plötzlich ein vertrauter Name: “Ich dachte nicht, daß er so wichtig war. In den 80ern hätte es Gründe gegeben, Kunsthändler umzubringen, aber heute? Und Borghaus? Gut, er hatte einen schnellen Start, aber befand sich noch in der ersten Runde.”
Hanna sehnte sich schon wieder nach einer Sonnenbank. Vielleicht waren die Studios gar nicht ihr Anti-Depressiva, sondern ihre Denkkammern, Orte an denen sie ihre Beobachtungen ordnete.
“Anne geht nicht zum Telefon.” Eins stand wieder neben ihr. Er sah beunruhigt aus. “Ich denke, ich sollte bei ihr vorbeifahren. Ja, ich denke, vielleicht wäre das besser.” Er war plötzlich ganz schnell auf dem Weg Richtung Tür.
Hanna mußte sich an dem Kellner vorbeidrängen, der sie ohne ihre Identitätskarte nicht rausgehen lassen wollte. “Warten Sie!” rief sie Eins nach:
“Ich begleite Sie!”
*
Sie fuhren in den Süden, überquerten die Themse auf dem großen Knoten bei Elephant and Castle und reihten sich Richtung Brixton.
Eins hielt in einer Nebenstraße. Das Haus war erleuchtet. Eins kannte den Weg, er stieß die Haustür auf und lief in den ersten Stock. Die Wohnungstür war angelehnt. Zu Hannas Verwunderung und ohne zu klopfen betrat Eins zielsicher die Wohnung. Hanna zögerte eine Sekunde.
Innen war alles auf einen Blick klar. Anne lag auf dem Sofa. Sie sah sie direkt an. Um ihren Hals zog sich die selbe rote Spur, die Hanna bereits am Vormittag gesehen hatte. Sie hielt Eins zurück und griff nach dem Handy in ihrer Jackentasche.
“Greifen Sie sie nicht an!”
Sein Gesicht, die wütende Geste mit der er sich losriß, würde sie wohl nie vergessen und das Lied, das durch das Radio im Raum verbreitet wurde.
Ich bin immer ganz nah dabei gewesen
Ich stand daneben aber eben nicht im Licht
Ich bin auf jedem Foto auch drauf gewesen
Aber wenn Du mich jetzt suchst, findest Du mich nicht
Man findet mich nur noch auf alten Bildern
Manchmal halt ich mir die Zeitung vors Gesicht
Manchmal hab ich Dich auch direkt angesehn
Aber wenn Du mich jetzt suchst, findest Du mich nicht