Das Jahr 1979 findet noch statt
Über „1979“ von Christian Kracht und „Actualité“ von Mathias Poledna
Zwei Anlässe in zwei völlig verschiedenen Kontexten: Der eine die Ausstellung „Actualité“ von Mathias Poledna im Grazer Kunstverein, der andere das neueste, feuilletonistisch durchgereichte Buch „1979“ von Christian Kracht. Sie haben fast nichts miteinander zu tun, außer einer Frage: Hat 1979 die Möglichkeit des Ausstiegs aus dem bestanden, was danach kam, die Möglichkeit, „es“ anders zu machen? Hätte die von Poledna von 2001 aus zurück zu New Wave via Neopostpunk gezogene Linie auch ganz anders verlaufen können? Wie hätte Krachts Version von 1979 ausgesehen, wenn sich die Wege zwischen dem Protagonisten, Ayatollah Khomeini und Pappschildern „mit dem dicken fleischigen Kopf von Mao Tse-tung“ am Ende der „Großen Erzählungen“ nicht gekreuzt hätten? Kracht hat - wie man das so macht - Musik als Motto vorangestellt: „Everything“s gone green“ von New Order. Auf der goldfarbenen Einladungskarte von „Actualité“ ging es auch um historisch spezifische Musik, „Popular Experiments. Teenage Music. Back to „74 or forward to „84?“: Die Zeit vor, während und nach der Punkrevolte.
1979 sind Poledna und Kracht zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt, also in einer jugendkulturrelevanten Phase, wo das Plattensammeln (damals hauptsächlich noch bei den Jungs) in die Profiphase tritt. Krachts Protagonist dürfte vermutlich das Alter gehabt haben, in dem Kracht jetzt ist. Im Roman hören er und sein Freund Christopher während ihrer Autofahrt von der Türkei in den Iran „erst Blondie, dann Devo, dann wieder Blondie“. Der Roman beginnt als Roadmovie, dessen Verlauf von einer Geschichte vorgezeichnet ist, die nicht die des Erzählers ist: Kurz vor Teheran taucht ein an einer Autobahnbrücke befestigtes Stofftuch auf, auf dem „Death to America -Death to Israel - Death to the Shah“ steht.
Die ProtagonistInnen in Polednas Filminstallation befinden sich im „America“ des Jahres 2001 (vor dem 11. September), sie gehören der Art-School-Generation an, haben gerade eine L.A.-typische Postpunk-Band gegründet und proben Late Seventy-Early-Eighty-Brit-Sound in ei-nem abgedunkelten Studio.
Auf einer Party in Teheran hört Krachts Protagonist Bachman Turner Overdrive und die „Nazi-Klänge von Throbbing Gristle“. Im Haus des Gastgebers hängt ein Porträt des Schahs neben „mehreren Bildern“ von Willi Baumeister und einer „fahlweißen Skulptur“ von Hans Arp: „Die Räume waren eher der exakte, genaue Ausdruck Europas, das Gegenteil Japans, sie drückten die äußere Opulenz perfekt aus, die Oberfläche, das Ausgeleuchtete, die Alte Welt und den unfehlbar guten Geschmack (....) Zum ersten Mal, seitdem wir in Persien waren, hatte ich das Gefühl des Ankommens und der Reinheit, ein Kindheitsgefühl (...)“
Es ist nicht auszuschließen, daß Kracht seinen Protagonisten in dem Wissen um das 1978 erschienene Buch „Orientalism“ von Edward Said sprechen läßt, das die Post Colonial Studies in der Literaturwissenschaft mitbegründen sollte. Said versucht u.a. an der klassischen Reiseliteratur nachzuweisen, daß der „Orient“ eine westliche, koloniale Konstruktion ist. Vorstellbar, daß Kracht seinen Protagonisten nach Teheran verpflanzt, um ihn von dort aus die „Alte Welt“ des Okzidents zurückerfinden zu lassen, z.B. in Form eines „seidenen Taschentuchs von Charvet“, das er, wie er erzählt, von Christopher, seinem Geliebten, in Buenos Aires geschenkt bekommen habe. Die gebeugte Fichte des Paisley-Musters symbolisiere, wie ihn der sterbende Freund aufklärt, die Zwangsislamisierung der zoroastrischen Perser durch Omar.
Die retrospektive Frage nach dem Horizont einer von 1979 aus gesehen möglichen anderen Zukunft beantwortet Krachts Roman mit Nein. Weder die Vergangenheit noch die Subjektivität der zentralen Figuren Krachts geben diese Möglichkeit frei. Innerhalb seines sadomasochistischen Verhältnisses mit Christopher ist der Ich-Erzähler auf die Rolle des Abhängigen, des Langeweilers, des Ungebildeten und Gedemütigten reduziert. Erinnerungsfetzen einer besseren Vergangenheit aus Gemeinsamkeit, Genuß und Luxus („Seine hellbraunen Halbschuhe waren von Berluti“) fallen der lakonischen Gewalt aus Leere und Abscheu zum Opfer, die die Kommunikation zwischen Christopher, dem Ich-Erzähler und schließlich Krachts Sprache selbst kennzeichnet. Sie scheint von der Fähigkeit zur Ästhetisierung, zur Sexualisierung, zur Fetischisierung abgeschnitten, die sie benötigen würde, einen Schritt in eine andere Richtung als die der Unfreiheit zu machen. Statt dessen wird der Protagonist am Ende seiner Reise aus dem Iran in den westlichen Tibet den Berg Kailasch umrunden (der - laut eines Teheraner Caféhausbesitzers, den er zufällig trifft - „in vielen Religionen als das Zentrum des Universums angesehen“ wird, als „Welt-Lotus“), um jenem „blinden Schneckendasein“ zu entkommen, als welches der korangläubige Bekannte die amerikanische Lebensweise bezeichnet. Chinesische Soldaten, die den Protagonisten in einer Gruppe von tibetanischen Pilgern aufgreifen, halten ihn für einen Russen. Er landet schließlich in einem Umerziehungslager in China, wo er um des Überlebens willen mit anderen gefangenen Zwangsarbeitern Maden aus menschlichem Kot pult. Der Roman endet mit der Erklärung, dass er ein guter Gefangener gewesen sei, der sich stets an der verordneten Selbstkritik beteiligt und niemals Menschenfleisch gegessen habe. Währenddessen findet anderswo die islamische Revolution in Gestalt des Ayatollah Khomeini statt.
Die retrospektive Frage nach dem Horizont einer von 1979 aus gesehen möglichen anderen Zukunft beantwortet Polednas Filminstallation „Actualité“ mit Ja. Das von Red Krayola produzierte Soundmaterial, nach Christian Höller ein Referenzmix aus Gang of Four, Au Pairs, Wire, Scritti Politti etc., umspielt die Möglichkeit einer anderen, nicht-homogenen Weiterentwicklung von Postpunk. 1979/80 setzt Poledna als einen Zeitpunkt, als der modernistische Gedanke der bereits zu Ende gegangenen Punkbewegung, etwas Neues, Anderes zu machen, noch einmal spürbar wurde. Eine mögliche, unausgesprochene Parallelgeschichte von „Actualité“ ist die Situation der westeuropäischen und nordamerikanischen Kunst Ende der siebziger Jahre. Die Ära der Conceptual Art war zu Ende, das Begehren nach einer neuen, starken Visualität war groß. 1977 bricht mit neoexpressiver Malerei aus der Sicht des kritischen Kunstdiskurses eine restaurative Phase an, doch mit KünstlerInnen wie Sherrie Levine, Louise Lawler und Richard Prince treten taktische Antipoden einer stagnierenden postmodernen Bilderkultur auf. Kritik und Ästhetisierung scheinen sich plötzlich nicht mehr auszuschließen. Mit Godards Rundkameratechnik aus „One plus One“ nährt „Actualité“ die Fiktion einer nie zuende gehenden Gegenwart von Pop. Vier new-wavige Wesen, inszeniert in originalgetreuem Equipment, reichen als ästhetische Zeichen für diejenigen aus, die damals jünger als Achtzehn waren, als Andere schon ausgestiegen waren, die Schule geschmissen und Bands gegründet oder irgend etwas anderes als Studium und Ausbildung angefangen hatten. Wieder Andere sind in die Friedensbewegung oder zu Amnesty International gegangen und haben mit Achtzehn „Die Grünen“ gewählt. Die Kulturrevolution war weit weg, die Punkrevolte noch weiter als heute, sie war bereits so altertümlich wie die goldene Farbe der Einladungskarte von „Actualité“. Es folgten Aktivismus und New Wave (hier hiess das Neue Deutsche Welle).
Ich hätte gerne gewußt, ob der Protagonist aus „1979“ damit rechnete, das Umerziehungslager jemals wieder zu verlassen. Oder wollte er am Ende nur das: Selbstkritik. Dass es Gründe gibt, die sachlich-coole Bitterkeit von Ex-Neo-Pop-Jugendlichen nicht (nur) für bare Münze zu nehmen, scheinen Polednas ProtagonistInnen mit ihrem offenkundig (nicht nur) genossenen Willen auszustrahlen, noch einmal da anzufangen, wo andere Möglichkeiten denkbar werden.
Notes
Christian Kracht, 1979, Köln (Kiepenheuer & Witsch), 2001
Mathias Poledna, Actualité, Grazer Kunstverein, 4. Juli bis 5. August 2001 (s.a. Sabeth Buchmanns Besprechung von „Actualité“, in: Texte zur Kunst, Dez. 2001, Heft 44)