Die Idee der Strasse ist vergessen worden

Jesko Fezer über den „Urban Re-Identification Grid“ von Alison und Peter Smithson, 1953

Der „Urban Re-Identification Grid“ von Alison und Peter Smithson, 1953

Der japanische Architekturtheoretiker und „Metabolist“ Noboru Kawazoe äußerte sich 1959 über das im Jahr zuvor in Tokio neu errichtete Wohnhaus „Harumi“ seines Kollegen Kunio Maekawa in bezug auf die aussenliegenden Erschließungswege folgendermaßen: „Hier können Kinder spielen oder Dreirad fahren, wie sie es auf dem Bürgersteig in anderen Bezirken dürfen. Hier können die jugendlichen Gangster nachts zum Kummer der Bewohner umherstrolchen. (...) Ein Gebäude gehört den Bewohnern nicht, wenn es nicht fähig ist, die zweifelhaften Seiten des Lebens ebenso zu absorbieren wie die erfreulichen.“

Dies war eine sehr außergewöhnliche Architekturkritik. Sie verwendete ein inzwischen klassisch gewordenes Horrorszenario moderner Architektur, nämlich vandalisierende gefährliche Jugendbanden und ähnliches „abweichendes“ Verhalten, als Lob. Kawazoe forderte für ein Gebäude die Fähigkeit, mehr als nur das möglicherweise Gewünschte oder Vorgesehene zuzulassen. Gebauter Raum sollte für die ganze Vielseitigkeit von Lebensäußerungen zur Verfügung stehen. Der Ort, der dies leisten kann, war im beschriebenen Fall der Erschließungsweg, den Kawazoe mit dem „Bürgersteig in anderen Bezirken“ gleichsetzte. Dieser Erschließungsweg machte damals als Element fortschrittlicher Architekturen eine erstaunliche Karriere. Er war ein programmatisches Nebenprodukt des Diskurses um das Prinzip „Straße“.

Innerhalb des CIAM

Als exemplarisch für die Auseinandersetzung mit „Straße“ kann der „Urban Re-Identification Grid“ der Londoner ArchitektInnen Alison and Peter Smithson angesehen werden. Dieser Plan sorgte 1953 auf dem 9. Internationalen Kongress Moderner Architektur (CIAM) in Aix-En-Provence für gesteigerte Aufmerksamkeit. Er war prominenter Teil eines folgenreichen Angriffs junger ArchitektInnen auf die institutionalisierte Bewegung der heroischen Moderne und ihrer Stellvertreter. Diese Gruppierung (sie nannte sich später Team 10) erklärte 1959 den CIAM für aufgelöst.

Der „Urban Re-Identification Grid“ war unterteilt in ein Raster von hoch vier auf quer acht Feldern. Dieses Prinzip bezog sich auf die unter Leitung von Le Corbusier entwickelte Systematik des „Grille“. Dieses zu CIAM 7 in Bergamo 1949 eingeführte einheitliche Präsentationsraster für Entwürfe, sollte eine bessere Übersicht ermöglichen und die vorgestellten Projekte vergleichbarer gestalten. Im „Grille“ wurden 21cm auf 33cm große Felder zu größeren Flächen aus bis zu 120 Einzelelementen kombiniert. Die Felder waren in vier farbig kodierte Kategorien entsprechend der kanonisierten modernistischen „vier Funktionen“ - Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr, sowie ein Feld „Diverses“ - vertikal organisiert. Horizontal waren neun thematische Klassifikationen vorgeschlagen: Umgebung, besetzte Fläche, Bauvolumen, Ausstattung, Ethik und Ästhetik, ökonomische und soziale Einflüsse, Gesetzgebung, Finanzierung, Realisierungsstufen und Sonstiges plus zwei freizulassende Felder für Reaktionen, eins für rationale und eins für emotionale Reaktionen der Anwesenden.

Die Smithsons verwendeten 1953 für ihr 80cm auf 260cm großes „Grille“ wie damals üblich ein solches Raster als Grundlage. Auch die Feldformate und das Größenverhältnis von Text- zu Bildfläche in den einzelnen Feldern entsprachen annähernd den Vorgaben des CIAM-"Grille“. Selbst das frei gemalte Wesen mit der Sonne im Bauch scheint auf Le Corbusiers „Modulor“ zu verweisen. Bei dieser so offensichtlich angelegten Vergleichbarkeit fällt auf, daß die entscheidende vertikale Untergliederung in „vier Funktionen“ plus „Diverses“ bei den Smithsons völlig entfiel und die horizontale thematische Gliederung stark verändert wurde.

Das gesamte Raster ist grob in drei Bereiche unterteilt. Im ersten Bereich, links, dominieren Fotos von spielenden Kindern. Einen zweiten Bereich bildet die vierte Spalte mit dem erwähnten handgemalten Sonne-im-Bauch-Wesen. Und der dritte Teil sind die vier Spalten der rechten Hälfte mit Plänen und Bild-Text-Kombinationen.

Jesko Fezer über den „Urban Re-Identification Grid“ von Alison und Peter Smithson, 1953

Straßenkinder

Die Fotos im ersten Bereich sind alles Aufnahmen von Nigel Henderson. Der Londoner Fotograf war ein Freund der Smithsons und wie sie Teil der Independent Group. Die verwendeten Fotos entstanden in Bethnal Green, ein Arbeiter- und Einwandererbezirk im Ostteil Londons. Nigel Henderson folgte dorthin 1945 seiner Frau, der Anthropologin Judith Henderson, die dort Untersuchungen im Rahmen eines Nachbarschaftsforschungsprojekts machte. Die Bilder zeigen unbeaufsichtigt spielende Kinder einer unterprivilegierten Schicht Purzelbaum schlagend, Springseil hüpfend, Himmel und Hölle spielend, Fahrradfahrend, Rollschuhfahrend, kletternd, sitzend, liegend und mit einem Hund. In der ersten Spalte, mit „House“ überschrieben, erkennt man auf den Bildern ein gemauertes Geländer eines Hauseingangs. Die Kinder turnen an diesem Geländer herum. Sie reagieren auf den Fotografen, der ungefähr in der Türe gestanden haben muß. Ein Teil des Feldes, der in den Feldern der rechten Planhälfte in der Regel für Text genutzt wurde, ist beige-orange übermalt und das oberste Bild des Kindes, das einen Kopfsstand macht, war seltsamerweise kopfüber auf den Plan montiert. Dies war jedoch meines Wissens zum ersten mal bei der Dokumenta X 1997, auf der der Plan ausgestellt war, der Fall. Vermutlich wurde bei einer Rekonstruktion nicht sorgfältig gearbeitet oder es handelt sich um einen marxistischen Scherz der ArchitektInnen. Inzwischen ist dies korrigiert worden, wie aktuellere Publikationen zeigen. Auch die Übermalung des Schriftbereichs wurde wahrscheinlich nachträglich hinzugefügt. Auf älteren Abbildungen ist dort ebenfalls kommentierender Text zu erkennen. Dieser lautete: „Die Straße ist eine Erweiterung des Hauses, in ihr erfahren Kinder zum ersten Mal von der Welt außerhalb der Familie, einer mikrokosmischen Welt, in der die Straßen-Spiele sich mit den Jahreszeiten verändern und die Zeit im Zyklus der Straßenaktivitäten zum Ausdruck kommt.“ Hier benennen sie, was die Bildfolge insgesamt vermittelt: Straße wird als Erweiterung des Hauses gesehen.

In der zweiten Spalte lenkt die Überschrift „Street“ die Aufmerksamkeit bei den Bildern eher auf den Kontakt der Kinder zur Straße. Sie liegen, rollen, fahren oder laufen. Sie bewegen sich in verschiedenste Richtungen und nutzen die Straße intensivst als Spielbereich. Die dritte Spalte ist mit „Relationship“ bezeichnet und verweist so auf die Beziehungen der Personen untereinander, die sich gruppieren, gegenübertreten und beobachten. Auch das mit Kreide auf den Boden gezeichnete Diagramm eines Hüpfspiels assoziiert Beziehungen, beispielsweise zwischen Zahlen und Körperteilen. Es geht also, folgt man den Überschriften, um Haus, um Straße und um Beziehungen; in den Photos in erster Linie um Beziehungen zwischen Personen. Aber das ins Bild gebrachte Geländer, das auf das Haus verweist, und die Kinder, die mit Blick in die Kamera oder der spielerischen Nutzung dieses Geländers eine Beziehung herstellen, deuten auch auf das schon angesprochene Verhältnis von Straße zu Haus als Erweiterung hin. Aber viel mehr, als die Fotos hier das Verständnis von Haus, Straße und ihrer Beziehung und dieser Beziehung als gesellschaftliche Beziehung eindeutig illustrieren, stehen sie für die Alltagswirklichkeit in den Straßen der Städte, in denen gelebt wird. Die Smithson schrieben später: „Die Mehrheit der Architekten hat den Kontakt zur Wirklichkeit verloren und baut die Träume von gestern, während der Rest von uns in der Gegenwart aufgewacht ist.“ Die Authentizität der Bilder und des abgebildeten Straßenlebens tritt hier als Gegenkonzept zum funktionalistischen Planungsverständnis des CIAM auf. Damit verweisen die Smithsons auf den schwelenden Grundkonflikt innerhalb der Architektenvereinigung: Leben gegen Architektur. Im Abschlußbericht der Arbeitsgruppe 6 des Kongresses stand es dann auch: „Das Leben fällt durch das Netz der vier Funktionen.“

Architektur der Beziehungen

In Aix-En-Provence griffen die Smithsons den CIAM Diskurs um die funktionelle Stadt an. Sie stellten mit dem „Urban Re-Identification Grid“ eine Anwendung und Erläuterung ihrer „Hierarchy of Human Associations“ vor, die Corbusiers „Charta von Athen“ ersetzen sollte.

Diese „Hierarchy of Associations“ ist in einem Schema dargestellt. Vier übereinander angeordnete Felder nehmen von oben nach unten die Kategorien Haus, Straße, Viertel/Gebiet und Stadt auf. Eine eingezogenen Diagonale verweist auf einen fließenden Übergang von abnehmender oder zunehmender Größe bzw. Intensität von unfreiwilligen bis freiwilligen Bezügen. Von „Nachbarschaft“ als Bezug auf der Ebene des Hauses, die stark von Unfreiwilligkeit geprägt ist, über den Bezug des „Wiedererkennens“ eines Zusammenhangs eines Viertels als räumlicher Ausdruck von beispielsweise „Arbeitsbeziehungen“ als Bezugsgröße der Menschen bis hin zur Stadt, in der sich die sozialen Beziehungen sehr freiwillig darstellen. Dieses schemenhafte Diagramm, das die Kategorisierung in die vier Funktionen ersetzen sollte, bezieht sich nicht auf angenommene „Grundbedürfnisse“ von Individuen in einer arbeitsteilig organisierten (staats)-kapitalistischen Gesellschaft, sondern auf soziale Verhältnisse als Bezug zwischen Menschen im Raum, wie sie überall und zu allen Zeiten zu finden sein sollen.

Street in the Air

Im „Urban Re-Identification Grid“ stellt der beschriebene linke Bereich des Rasters sich wie eine allgemeine Erkenntnis aus der Beobachtung der Welt dar. Diese „Tatsächlichkeiten“ des Lebens, besonders unverdächtig aufgeführt durch Kinder, setzten die Smithsons hier bewußt unklassifiziert auf die Felder der vier Funktionen. Erst danach, in der Leserichtung, in der vierten Spalte mit der Überschrift „CIAM 9“ setzten die Smithsons den Anfang des engeren Architekturdiskurses. Die Felder dieser Spalte, auf denen das Wesen tanzt, stellen drei Kategorien auf. Die erste Zeile ist mit „assumptions“ - Annahmen bezeichnet und stellt die vorgefundenen Voraussetzungen der Planung dar, die hier allerdings eher als Vermutungen auftauchen und in der Wortwahl ihren in Frage stellenden Charakter zeigen. Vor der zweiten Zeile ist so etwas wie „assoca...al components“ zu lesen. Hier wurde vermutlich bei der mühsamen Schablonenbeschriftung das „i“ vergessen. Da die Smithsons in späteren Publikationen von „associational elements“ schreiben, sind wohl verbindende, vereinigende Bestandteile gemeint. Als letzte Kategorie stellen sie „physical components“ - physische Bestandteile auf. Dies sind letztlich die baulichen Elemente, die in Verbindungen gebracht werden. Über alles hinweg steht eine Figur mit verschiedenfarbigen Beine, vielleicht einen Strumpf, einem kurzen roten Rock und einer flammenden Sonne mit dem Büro-Logo der Smithsons im Zentrum. Daneben ist eine Art Schild mit dem Kürzel „UR“ abgebildet und oben ein Kopf mit eigenartiger Frisur und vielleicht einer Halskrause. Die Figur fungiert als Opener, eine lustige unkontrollierbare Person in Bewegung - ein weiblicher „Modulor“ angetrunken auf einer Party. Im folgenden dritten Teil des Raster griffen die Smithsons auf ihren nicht prämierten Wettbewerbsbeitrag für die „Golden Lane Housing Competition“ im Jahr zuvor zurück. Für das Zentrum Coventrys entwickelten sie ein Netzwerk aus 10-geschossigen Wohnbauten, das die bestehende Stadt überlagern sollte. Sie planten eine neue Schicht über die zerbombte Stadt, in der die Anordnung der Gebäude nicht mehr durch ein geometrisches Raster, sondern durch die Topographie des spezifischen Ortes, durch den „Kontext“ strukturiert wurde. Durch jedes dritte Geschoß sollten sich breite Wege ziehen, die die zweigeschossigen Wohneinheiten erschließen und die Gebäudeeinheiten untereinander verbinden. Hier griffen sie auf das anfangs bereits erwähnte, damals populäre Konzept zurück, das auch Le Corbusier bei seiner im selben Jahr fertiggestellten Unité in Marseille einsetzte und „Rue Interieur“ nannte. Die Smithsons verlegten diese „Innere Straße“ nach außen und nannten sie „Street in the Air“.

Laubengang

Die Kombination dieses zentralen Entwurfselements mit Straßenszenen aus einem Londoner Arbeiterviertel verweist auf einen anderen Bezug. Das von den Smithsons eingesetzte Konzept der Erschließungsstraße in Obergeschoßen ist eine architektonische Erfindung, die historisch eng mit der Frage nach angemessener „Arbeiterarchitektur“ verbunden ist. Sie ist das Kennzeichen des Laubenganghauses, das ebenso als Ort der Unterdrückung wie der Emanzipation der Arbeiterklasse eingesetzt wurde.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Laubenganghäuser hauptsächlich in norditalienischen Städten verbreitet. Die durch die außenliegenden Erschließungswege in jedem Geschoß erreichte Einsparung an Treppenhäusern sicherte den Eigentümern einen höheren Profit. Außerdem wurden diesem Konzept hygienische Eigenschaften zugesprochen und es hieß, die Ausbreitung ansteckender Krankheiten würde so eingeschränkt. Auch könne so der Kontakt zwischen den Mietern reduziert werden, die sich in einem gemeinsam genutzten Treppenhaus ansonsten häufiger und unbeobachteter begegneten, und „die Kontrolle der Öffentlichkeit folgt dem Bewohner bis zur Türe“. Diese Interpretation und der vor diesem Hintergrund betriebene Einsatz des Laubenganghauses war verbunden mit der Erfahrung von Kontrolle und Ausbeutung der Arbeiterklasse und erlangte so die Bedeutung eines Klassenmerkmals.

Dem Laubenganghaus wurden aber zur gleichen Zeit auch gemeinschaftsbildende Eigenschaften zugeschrieben. Der „Fourierist“ Jean Baptiste André Godin setzte sie in seinen zwei zwischen 1859-1885 gebauten FamilistËres ein, die er sozialreformerisch-romantisch für die Arbeiter seiner Fabriken errichten ließ. 1880 übergab er sogar die Wohnungen gegen den Widerstand des französischen Staates in den Besitz der Arbeiter. Das Gebäude wies eine große Zahl gemeinschaftlicher Einrichtungen auf und um glasgedeckte Innenhöfe führten Galerien zu den Wohnungen. Bei gemeinschaftlichen Anlässen dienten diese Wege den Bewohnern als Balkone und waren so Teil des gemeinschaftlichen Raumes. In diesem Widerspruch zwischen Kontroll- und Spekulationsinteressen einerseits und gemeinschaftsbildendem Potential blieb der Laubengang auch stecken, als er für das Neue Bauen als Modell entdeckt wurde. Auf dem zweiten CIAM 1929 in Frankfurt wurden von Walter Gropius Laubenganghäuser wegen ihrer Wirtschaftlichkeit als besonders geeignet für Wohnbauten für das Existenzminimum angesehen. Großzügiger setzte der holländische Architekt Michael Brinkmann in seiner 1919-1921 in Rotterdam erbauten Wohnsiedlung „Spangen“ außenliegende Erschließunsstraßen ein. Der Laubengang, der die Obergeschosse im Inneren der Wohnhöfe erschloß, war breit genug, damit die Händler mit ihren Wägen dort ihre Waren anbieten konnten.

In der Sowjetunion wurde dem Prinzip des Laubenganghauses eine noch beudeutsamere Rolle zugewiesen. Im Zusammenhang mit der staatlich beauftragten und geförderten Entwicklung von Kommunehäusern entstand eine Vielzahl baulicher Lösungen mit exponierten Erschließungswegen. Das Komitee für Wohnbauwesen „Stroikom“ arbeitete seit 1928 an der Standardisierung von Wohnungen. Einen mit „F“ gekennzeichneten Typus einer Wohnzelle, der an einem außenliegenden Gang angeordnet war, sah man als geeigneten Weg zur Verwirklichung des Kommunehauses, weil er „die Zusammengehörigkeit aller Wohnungen im Sinne eine Wohngemeinschaft betont“. Ein Zwischenergebnis auf dem Weg zum Kommunehaus war das von Ginsberg und Mlinis 1928-1923 in Moskau errichtete „Narkofim Haus“. Es enthielt neben den üblichen gemeinschaftlichen Koch- und Speiseräumen auch noch kleine Koch-Nischen in den Wohnungen, die für die Übergangsphase zu einer weiterentwickelten vergesellschafteten Form der Hausarbeit zur Verfügung standen. Wesentlicher war allerdings der verglaste breite Gang an den sich über Treppen nach oben und unten die einzelnen Wohnzellen anschlossen. Die Architekten sahen dies als einen Ort des „sozialen Austauschs“ und nannten solche Projekte „Soziale Kondensatoren“. Sie sollten „als Behälter des Alltags den Übergang zu höheren Formen gesellschaftlichen Lebens stimulieren“.

Jesko Fezer über den "Urban Re-idenfication Grid" von Alison und Peter Smithson von 1953

Golden Lane Housing

Die sich ansonsten sehr unpolitisch gebenden Smithsons bezogen sich hier gerade im Rahmen des CIAM, der Teil der beschriebenen Geschichte war, sehr explizit auf die Debatte um die Möglichkeiten moderner Architektur in bezug auf die politische Entwicklung der Arbeiterbewegung. Sie berufen sich aber innerhalb ihrer Plandarstellung nicht auf die Geschichte des Klassenkampfes und Modelle der Überwindung kapitalistischer Ausbeutung, sondern auf allgemeine alltäglich vorgefundene Tatsachen. Sie zeigen keine Theorie, keine Idealvorstellung, nur die Welt der Straße, des Alltags, die Dinge, die jeder sehen kann. Diese Dinge werden in ihrem Plan, der sich jetzt rechts von der Figur horizontal gliedert, in der Zeile, die mit „Assumption“ - Annahme gekennzeichnet ist, noch einmal aufgelistet. Dort befindet sich wieder ein Foto mit spielenden Kindern von Nigel Henderson, dann das Bild einer festlich geschmückten Straße, dann ein Schwarzplan des kriegszerstörten Wettbewerbsgebietes und als letztes das Kürzel „UR“ für „Urban Re-Identification“. Diese stehen für die vier in den Überschriften benannten Kategorien Haus, Straße, Gebiet, Stadt und führen die bereits erwähnte „Hierarchy of Association“ in abgewandelter Form auf. Sie deklinieren ihren Entwurf für „Golden Lane Housing“ auf allen von ihnen aufgestellten Ebenen psychisch-räumlicher Beziehungen durch.

In der nächsten Zeile, im Feld unterhalb des Fotos der spielenden Kinder, sind Grundrisse der Einzelwohnungen ihres Entwurfes mit zwei Perspektiv-Collagen kombiniert. Davon zeigt die obere den Blick vom Hof-Garten in einem Obergeschoß des Hauses in die landwirtschaftlich genutzte entfernte Landschaft. Der Hof ist durch ein niedriges Gatter von der Erschließungsstraße getrennt und durch großzügige Flügeltüren mit der Küche verbunden. Darunter erkennt man eine perspektivisch gezeichnete Ansicht des Projektes in eine Trümmerlandschaft collagiert. Auffallend ist, daß eine wesentlich spektakulärere Perspektivzeichnung mit Marylin Monroe und Peter Ustinov im Vordergrund hier nicht eingesetzt wurde. Ebenso verzichteten die Smithsons auf eine andere bekannte Collage ihres Entwurfes ins dramatische zerstörte Nachkriegs-London, denn sie schienen sich des provokativen Charakters ihrer Präsentation sehr bewußt und waren vermutlich bemüht, so ernsthaft wie möglich aufzutreten.

Die nächste Spalte beginnt mit einem Foto, das Vorbereitungen zu einem Straßenfest zeigt. Es wird von den Smithsons folgendermaßen kommentiert: „In Vororten und Slums überlebt die lebendige Beziehung zwischen Haus und Straße. Kinder rennen herum, Leute bleiben stehen und kommen ins Gespräch, Fahrzeuge werden geparkt und es wird daran rumgebastelt. In den hinteren Gärten sind Tauben und Haustiere und die Läden sind um die Ecke. Du kennst den Milchmann, Du bist außerhalb Deines Hauses in Deiner Straße.“ Dies beschreibt sehr anschaulich, wie sich die Smithsons die Rolle der Straße in der Architektur als sozialen Raum vorgestellt haben. Darunter ist dargestellt, wie sich die Wohnungen im „Golden Lane Housing“ Projekt an die Straße gruppieren, die als „Street-mesh-in-the-air“ in allen drei Geschoßen eingesetzt wurde. Darunter in der Zeile „Physical Components“ wird der im Feld links davon dargestellte grobe, schematische Lageplan zerlegt. Man sieht einige noch bestehende Gebäude der vorgefundenen Stadtstruktur, sozusagen die straßenbildenden Elemente, wie sie vorlagen.

In der nächsten Spalte „District“ wird im obersten Feld das vorhandene Stadtviertel gezeigt. Darunter eine Prinzipskizze, wie sich in der Gesamtstruktur Viertel ausbilden können: Büros, Fabriken, Handwerk und Orte für Feierliches. Diese eigentümliche Aufteilung ist nicht so funktionell, wie es zunächst erscheint, sondern es bilden sich thematische „Cluster“ aus. „Cluster“ nannten die Smithsons solche zusammenhängenden aber begrenzten baulichen Strukturen. Diesen Begriff zu erfinden, scheint notwendig, um sich von vorhandenen Assoziationen, wie sie „Viertel“ oder „Gebiet“ nahelegen, zu lösen und überhaupt über neue Formen nachdenken zu können. Das verbindende Element eines Clusters waren natürlich „Straßen“.

In der letzten, mit „City“ überschriebenen Spalte steht das gestempelt wirkende Kürzel „UR“. Analog der „Hierarchy of Associations“ wird hier das Motiv immer abstrakter bzw. codierter. Während Haus und Straße noch mit einem Foto (Kind, Straßenfest) erfaßt werden können, muß das Viertel/Gebiet schon als Plan dargestellt werden, während für die Stadt dann ein Begriff als Kürzel steht: „UR“, die Idee der Wieder-Identifizierung der Stadt. Mit „UR“ sprechen sie ihrem Entwurf die Wirkung zu, Beziehungen herzustellen, die die Stadt wieder identifizierbar oder erkennbar/erfahrbar machen. Dies sind soziale, zwischenmenschliche Verbindungen, die in Bezug zu städtischen und architektonischen Bezügen stehen. Vermittelt werden diese Beziehungen über die „Straße“. Im Feld darunter zeigen sie ihren Entwurf in der Dimension der Stadt und stellen dar, wie das Straßensystem ein zusammenhängendes komplexes System ergibt.

Jesko Fezer über den „Urban Re-Identification Grid“ von Alison und Peter Smithson, 1953

Straßenleben

Im Urban Re-Identification Grid wird „Straße“ intensivst bearbeitet. Dies ge-schieht auf mehren Ebenen der Bedeutung des Wortes und im engen Zusammenhang mit den Konventionen und der Geschichte des CIAM.

„Straße“ steht hier als Platzhalter und Hebelpunkt für die heftige Kritik der Smithsons an den funktionalistisch-schematischen Architektur-Konzeptionen der Spätmoderne. Gerade als Ort der intensivsten Projektion der Planer der verkehrsgerechten Stadt und als Bestandteil der vier Funktionen, griffen die Smithsons „Straße“ auf und stellten mit ihr dar, wie das Leben ihrer Ansicht nach wirklich aussah: vielseitig und am Menschen orientiert. Die Smithsons arbeiteten hier allerdings keinesfalls in Richtung einer verkehrsberuhigten lieblich-historischen Innenstadt, sondern gingen, wie man an späteren Projekten wie „Berlin Hauptstadt Plan“ oder „London Roads Study“ sehen kann, stark von der strukturierenden Fähigkeit der Verkehrswege aus und insgesamt von einer Gesellschaft, die in Bewegung und Veränderung begriffen war.

Der zweite grobe Fokus, auf den der Einsatz von „Straße“ zielte, war die Strukturierung der Beziehung von Haus und Stadt durch ein übergeordnetes, verbindendes und Bewegung darstellendes Element, das durch seine Größe und Offenheit die Fähigkeit besitzt, Verbindungen herzustellen - gesellschaftliche sowie räumliche.

„Straße“ war für die Smithsons und andere fortschrittliche ArchitektInnen damals einerseits der Ort, an dem sich ein unverstellterer Blick auf Wirklichkeit und Alltag oder besser: „Leben“ neu fokussieren läßt und andererseits das privilegierte räumliche Element, das Vielseitigkeit und Unvorhersehbarkeit oder besser: „Leben“ in ihre Architekturen bringen sollte. Sie war das Schlüsselelement, das den Blick der PlanerInnen erneut für kurze Zeit auf die Stadt- und ArchitekturbenutzerInnen zog.

Starship 5: Zwei sind zu wenig - Cover Deborah Schamoni
  1. Editorial #5 Martin Ebner, Hans-Christian Dany, Ariane Müller
  2. Poem Mark van Yetter
  3. Zentralasiatisches Hochland – Gelände Friederike Clever
  4. Odessau Honey-Suckle Company, Simone Gilges, Zille Homma Hamid
  5. found artist N.Y. Jutta Koether
  6. Rudolf Leopold Porträt eines Sammlers Francesca Drechsler
  7. The great swindle of Neu Hans-Christian Dany
  8. Die Barrikade Ariane Müller
  9. Die Idee der Strasse ist vergessen worden Jesko Fezer
  10. Berlin Maps Shary Boyle
  11. moonboots Micah Magee
  12. Aus der Stadt Lina Launhardt, M.K.
  13. Civic Center Park Katrin Pesch
  14. Kristall. Christine Lemke
  15. O.T. (Odeon, Saint Honoré, Manfred Götzl Stilleuchten) Stefan Panhans
  16. displacement Daniel Pflumm
  17. The language monster Haytham El Wardany
  18. Eine Unterhaltung via E-Mail zwischen Haytham El Wardany und Ariane Müller, die zwischen Anfang September und November 2001 geführt wurde. Haytham El Wardany, Ariane Müller
  19. Impressum Starship 5 Ariane Müller, Martin Ebner, Hans-Christian Dany, Micah Magee, Stephanie Fezer
  20. In der Sicherheitszone Dorothée Klaus
  21. Die Nomaden des Kapitals Sebastian Lütgert
  22. 2001, Drawings Cristobal Lehyt
  23. A crack, not a boom Hans-Christian Dany
  24. speaking in tongues Natascha Sadr Haghighian
  25. Rio Helmut Battista
  26. Projekte und Existenzen Dietmar Dath, Barbara Kirchner, Stephanie Wurster
  27. Das Jahr 1979 findet noch statt Sabeth Buchmann
  28. Theorie der Sicherheit Carsten Zorn
  29. Was sind wichtige Momente eines Lebens? Biografische Stationen? Ariane Müller
  30. Früchte des Zorns Diana Mc Carty
  31. I won't be your mirror Sebastian Lütgert
  32. Psych-Out Ariane Beyn
  33. Kann ein Video-Mädchen lieben? Justin Hoffmann
  34. Krankheit Jugend Stefanie Fezer
  35. Das Double Eva Färber, Suse Weber
  36. Die sechsundvierzigste Minute der achten Stunde des elften Tages Ariane Müller
  37. Begriffsstudio Stephanie Fezer
  38. Hot Pot in Oslo Pierangelo Maset
  39. Plundered Florian Zeyfang
  40. Wels revisited Micah Magee
  41. Die Sonnenfinsternis im Norden hält an Nina Möntmann
  42. Get Rid of Yourself Bernadette Corporation, Le comité invisible
  43. "begin to think, about how we are to begin to begin" Klaus Weber
  44. Metallkrakenkrankenkanne Leichenroller Michaela Eichwald
  45. Motelhanoi Martin Ebner
  46. Cadaques Deborah Schamoni
  47. Rauchringe Christoph Keller, Jörg Keller
  48. straße Silke Nowak
pageview counter pixel