I won't be your mirror
Über Mulholland Drive, ein Film von David Lynch
Kaum eine Rezension von Mulholland Drive, die nicht mit der Platitüde beginnt, bei David Lynch hätten und brauchten Geheimnisse keine Lösung, um sich im Folgenden statt an die Analyse des Films entweder gleich in den Nebel der ungelösten Geheimnisse der Kinematographie zu begeben (Hollywood, Liebe, und immer wieder: Tod des Kinos) oder doch zumindest auf die Suche nach Belegen für die These, Lynch mache immer denselben Film, und das sei auch gut so.
Dabei ist Mulholland Drive von seinen Vorgängern sehr verschieden. Bei Twin Peaks und Lost Highway handelte es sich um das große und das kleine Spiegeldrama: einmal um eine sehr komplexe Spiegelung, deren Achse das Wohnzimmer der bürgerlichen Familie ist, und einmal um eine sehr einfache Spiegelung, um die Gefängniszelle namens heterosexuelle Beziehung. Bei Mulholland Drive haben wir es dagegen nicht mit einer perfekt punktsymmetrischen Projektion zu tun, sondern mit einer zum Teil ziemlich unscharfen Verschiebung entlang einer Linie: jener Strasse, die dem Film nicht nur seinen Titel, sondern auch sein Thema gibt, und das ist nicht mehr das hermetisch geschlossene Private, sondern die auf die wirkliche Welt hin ziemlich weit geöffnete Stadt. Also zum ersten Mal bei Lynch eine Liebesgeschichte zwischen Erwachsenen.
Die beiden Teile des Films (deren jeweilige Produktionsbedingungen hinreichend bekannt sein dürften) führen auf sehr unterschiedliche Weise die zwei sehr verschiedenen Stadien der Verschiebung und zugleich deren Logik vor, die weniger die angebliche Dialektik von Verlieben und Verlieren ist, als vielmehr die Fiktion einer Übertragung sozialer Rollen: Betty (Laura, Renee), die Schauspielanfängerin und zukünftige Geliebte von Rita, wird zu Diane, der Ex-Freundin von Camilla; Rita (Madeleine, Alice), das amnesierte Unfallopfer, wird zu Camilla, dem Starlet mit Mafiaverbindungen; Camilla, das Starlet mit Mafiaverbindungen, wird zur Statistin; Coco, die Vermieterin von Bettys Tante, wird zur Mutter des Regisseurs; und nur Bettys Tante bleibt Bettys Tante. Wie überhaupt Mulholland Drive als jene Fernsehserie, die ABC nicht produzieren wollte, statt in einer von Zwillingen bevölkerten Familienhölle in einem Onkel-und Tantenuniversum gespielt hätte, in dem sich, wie wir seit Donald Duck wissen, statt bloß immer wieder Ödipus die ganze Welt erzählen lässt.
Die einzige Referenz an Twin Peaks wäre der Diner als öffentliches Zentrum des sozialen Lebens gewesen, in dem schon dort jene Verwandlungen möglich waren, die in der Familie meist tödlich enden, und wo die geheimen Botschaften ihre Adressaten selbst dann noch erreichen, wenn aus dem Off der Chor der Rezensenten tönt, Lynch habe Lacan überhaupt nicht gelesen. Und so dreht sich das Universum von Mulholland Drive um das Namensschild der Kellnerin, auf dem zuerst „Diane“ und dann „Betty“ steht, und zwar in jener Sprache, wie die das Unbewusste Feuilleton und Filmkritik zum Trotz strukturiert ist.