Kann ein Video-Mädchen lieben?
Über Masakazu Katusuras Mangareihe „Video Girl“
Keine Ahnung, an wen sich die Comic-Bücher von „Video Girl“ eigentlich wenden. Irgendwie fühlt man sich immer fehl am Platz. Als erwachsener Mann sowieso. Sofort kommen einem Gedanken wie: „Hat das Interesse an diesen Mangas mit einer latenten pädophilen Neigung zu tun?“ Auf jeden Fall weckt „Video Girl“ Erinnerungen, nicht an bestimmte Geschehnisse während der eigenen Jugend, sondern an bestimmte Gefühlslagen, die einem in jener Zeit als besonders tragisch und verletzend erschienen. Masakazu Katusuras Protagonisten seiner in Japan 1990-93 publizierten Mangas sind alle schulpflichtigen Alters und gehören also ungefähr der Generation von Tick, Trick und Track oder von Sabrina oder Moesha an. Die letztgenannten Heldinnen der beiden TV-Serien haben mit „Video Girl“ hinsichtlich Sex-Appeal, kultureller Zeitgenossenschaft und romantisch-dramatischer Handlung natürlich mehr zu tun als die streberhafte Pfadfinderei der Figuren Walt Disneys. Aber der Adressat bleibt weiterhin unklar: Ist nun „Video Girl“ mehr an Frauen oder Männer, an Mädchen oder Jungs gerichtet? Es ist die Geschichte eines männlichen Teenagers, aber die eigentliche Attraktion bildet das Video Girl. Das Cover und die ganz Aufmachung des Mangas ist auffallend dekorativ. Bunte Ornamente, die von einem modernen Kirchenfenster stammen könnten, zieren den Einband. Auch das Genre an sich ist weiblich konnotiert: die Romanze. Bei „Video Girl“ handelt es sich um eine Liebesgeschichte und ihre Verwicklungen. In der Kulturtheorie (z.B. John Fiske) gilt das romantische Genre als ein Produkt des 19. Jahrhunderts,das neue, den veränderten ökonomischen Bedingungen adäquate Formen des Patriarchats verlangte. Die Gesellschaft wollte von Frauen, dass sie heiraten und Nachkommen produzieren. Die Romanze lehrte sie, diese Forderung nicht in ökonomischen und sozialen, sondern in persönlichen und emotionalen Begriffen zu erleben. So wurde die „Liebesheirat“ als ein Bedürfnis von Frauen konstruiert. Die Romanze diente als Schulung für die Ehe. Innerhalb der romantischen Erzählung werden aber auch feminine Werte ausgedrückt, die nicht vollkommen in die patriarchale Struktur passen wollen, von ihr nie ganz vereinnahmt werden.
Wie bei allen Romanzen steht auch in der Narration von „Video Girl“ die Frage „Kommen die Liebenden zusammen?“ im Mittelpunkt. Und das ist bekanntermaßen nicht so einfach, denn wer weiß in jungen Jahren schon, wen er eigentlich liebt und warum? Das erste Bild dieser Saga ist ein Kuss oder besser: der schüchterne Ansatz eines Kusses. Doch diese Szene ist wie so häufig in „Video Girl“ nicht die Realität, es ist ein Wunschbild, eine Imagination des Schülers Yota Moteuchi. Aus dessen Blickwinkel wird die Geschichte in erster Linie dargestellt, obwohl man in einem Comic eigentlich kaum von einer konventionellen Erzählerposition sprechen kann, da die Seifenblasen alle Akteure in Ich-Erzähler verwandeln und ein Großteil des Textes aus direkter Rede besteht. Von seinem Schwarm, der Mitschülerin und Aushilfskellnerin Moemi (auf die im Lokal wie bei Roswell automatisch die Blicke der Jungs ruhen), erfahren wir zu Beginn nur, was sie redet, von Yota jedoch, was er denkt, und was er träumt. Erst mit der weiteren Handlung in den verschiedenen Bänden treten die Wünsche und Gedanken der weiblichen Teenager stärker in den Vordergrund.
Die Glücks- und Unglücksmomente dieses Liebesszenarios wären letztlich langweilig, gäbe es nicht Video Girl. Sie ist die metaphysische Reaktion auf die große Enttäuschung von Yota, dass Moemi sein Begehren nicht erwidert, sondern in den älteren Takashi verliebt ist. Wie Yota auf Video Girl stösst, ist äußerst mysteriös. An der Spitze eines Hügels am Ende einer Straße befindet sich plötzlich eine Videothek. Sie zu betreten, bedeutet, in ein geheimes Landes der Wünsche und zugleich in die Filiale eines dubiosen Medienkonzerns zu gelangen. Ausgerechnet in der Adult-Filmabteilung entdeckt der männliche Protagonist zwischen Pornostreifen ein außergewöhnliches Video, das ihn sofort anspricht. Auf dem Cover zeigt es das Bild eines von den Worten „Ai Amano - Ich tröste dich“ umrandeten, blonden Mädchens (wenn ein Belgier Yoko Tsuno zeichnen kann, warum dann nicht ein Japaner ein blondes Girl). Ein alter Mann mit Bart, eine Mischung aus Petrus und Albert Einstein, erklärt ihm, daß nur jemand, der „reinen Herzens“ ist, also z.B. Liebeskummer hat, aber trotzdem auf die Gefühle Anderer achtet, zum Ausleihen des Videos berechtigt ist: Als Yota dann Zuhause das Tape einlegt, erscheint auf dem Fernsehgerät Ai, das Video Girl. Sie ist keine gefilmte reale Person, sondern ein künstlicher, konstruierter Mensch. Da Yotas Videorecorder defekt ist, gleitet Ai plötzlich von der Welt hinter dem Bildschirm in das Zimmer des unglücklichen Jungen über. Einmal im wirklichen Leben angekommen will sie ihn nun nicht nur als virtuelle Ablenkung trösten, sondern nimmt konkret an seinem Leben teil. Durch sein unkonventionelles Verhalten – sie kommt ja aus einer Art Cyberspace – bringt sie ihn auf andere Gedanken. Aus der anfänglichen Verwirrung entsteht eine enge Bindung, und schließlich verliebt er sich ihn sie.
Normalerweise ist es verpönt, eine Phantasiegestalt, z.B. einen Star aus Film und Fernsehen, ernsthaft zu lieben (obwohl dies kein seltenes literarisches Thema ist), doch in „Video Girl“ wird die Zuneigung zu einem humanoiden Produkt der Neuen Medien durchaus positiv gewertet. Die wahre Liebe scheint dem Video Girl zu gelten, und weil sie so unmöglich ist, ist sie so begehrenswert und romantisch. Viele Hindernisse, die auf einer Gradwanderung zwischen virtueller und materieller, organischer und anorganischer Welt liegen, sind zu überwinden. Dabei werden philosophische Überlegungen wie z.B. Slavoj Zizeks „kein Sex, wir sind digital!“ (in: Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a.M. 2001) berührt und visualisiert. Vier Bände von Video Girl sind heuer bereits in deutscher Übersetzung erschienen, hoffentlich sind es demnächst mehr.