Krankheit Jugend
Japans Teens zwischen Soll und Haben
Die Welt ist verkehrt. Die japanischen Berufsjugendlichen finden Berlin toll und die Alleswisser aus Berlin denken, dass alles besser ist als die piefige Möchtegern-Weltstadt an der Gurkenspree. Erst recht Tokio, eine unvorstellbar eng gebaute Stadt direkt am Pazifischen Ozean. Tokio ist schön, besonders und teuer. Wer hier wohnt, ist meist zugezogen, nicht anders als in New York City und Berlin. Und wie in NYC klammern sich Neutokioter mit allen Kräften an ihre teuer erarbeitete Großstadtexistenz. Von Berlin aus, aus einer unverhältnismässig grossen und günstigen Altbauwohnung heraus, ist es unvorstellbar, so hart für sein Leben kämpfen zu müssen - aber auch saucool und mutig. Schon schwieriger wird‘s für Berliner mit der Bewertung der Streetstyle-Besessenheit der Japaner. So offensichtlich zusammengeklaut, plagiiert und auf westlich getrimmt: Ist das genauso cool - und das heisst eben auch souverän - wie die anderen Spitzen-Produkte aus Japan? Im Land der Kirschblüte wird diese Modewelle, die vor 4, 5 Jahren in den In-Bezirken Tokios begann und inzwischen vielfach dokumentiert ist, noch immer ziemlich euphorisch kommentiert.
„Fruits“ war die erste Zeitschrift, die sich dem Phänomen komplett widmete. Das Heft ist voll mit aufgestylten Teenies - die man eben „Fruits“ nannte, übrigens auch auf Deutsch die passend entrüstete Bezeichnung -, in bunten Kombinationen aus Designerware, Selbstgemachtem und Second-hand. Nicht zu vergessen die mit bestimmten Kleidungsstücken konnotierten Berufs-, Sozial- oder Generationsebenen, die neu zusammengesetzt zu überraschenden neuen Sinnzusammenhängen führen. Das Buch zur Zeitschrift („Fruits“, Phaidon) versammelt die besten Bilder des Zeitschrift-Gründers Shiochi Aoki (hier gibt es eine Heftkritik und die Möglichkeit zu bestellen: <a href=http://photojpn.org/books/mags/fruits.html>photojpn.org/books/mags/fruits.html</a>).
Die an Verkleidung grenzende Kleidung hat meist eine bestimmte Funktion und Bedeutung: eine spezielle Manga- oder Anime-Figur, ein Rockstar-Groupie, Gruftie oder Lolita. Zitat von einer „Eva“ auf einer Streetfashion-Fanpage: „I love jrock. I love Dir en Grey, Malice Mizer and Kana. I am working on a Mana costume and maybe a Kana too. I really like the jrock and gothic lolita fashion a lot. I love anime.“ Japanese Streetfashion kann, muss aber nicht, Kostümierung sein und das Tragen Rollenspiel. Das wird schon in den kurzen Interviews im „Fruits“-Buch deutlich. Die Fotografierten sind alle im Tokioter In-Stadtteil Harajuku aufgenommen und zwar im Laufe von ein, zwei Jahren mehrmals. Wie beim Fantasy-Rollenspiel behalten manche der Jugendliche ihre „Figur“ für Jahre, andere ändern ihren „Charakter“ nach Laune. Die kurzen Interviews spiegeln den Jargon des jeweiligen Charakters wieder.
Das „Merry-Projekt“ von Koji Mizutani <a href=http://www.21merry.net>www.21merry.net</a> greift den seicht-esoterischen Aspekt der Welle auf. Mizutani lichtete genau ein Jahr lang die Aufgeräumtesten unter den Fashion-Victims ab und liess sich kurze Staments zu ihrer „Fröhlichkeit“ geben. Im Londoner Kaufhaus Selfridge und im Einkaufscenter Laforet in Harajuku hingen die Bilder mehrere Wochen lang. Jetzt gibt es das Buch, auf der Website wird es folgendermassen angepriesen: „It’s a feelgood book that tries to rub off some of the smiling teens“ high spirits and cheerfulness on you“. Kein Wunder, dass es sich fast so erfolgreich verkauft wie das Bilderbuch über den von japanischen Frauen anscheinend hysterisch verehrten Premier Koizumi.
Die Szene hat sich in den paar Jahren ihres Bestehens jedenfalls ordentlich runtergekocht. Nicht mal in Harajuku findet man noch so richtig verrückte Opfer. Das ist leicht nachzuprüfen, indem man auf die Seite www.j-streetstyle.com/ geht. Hier gibt es Fashion Reports aus In-Stadtteilen in Tokio und Osaka: Ein Haufen Fotos von aufgebrezelten Frauen und Mädchen und ein paar wenigen jungen Männern. Das Gute an der Seite ist, dass die Herausgeber ihre Aufgabe wirklich ernst nehmen. Wenn ein Foto es auf die Seite geschafft hat, wird es auch ausführlich kommentiert, selbst wenn es nur um ein schräg gebundenes Halstuch geht. Kleidung ist immer ernst zu nehmen, ist hier die Botschaft, und, das ist das Credo aller japanischen Streetstyler: Keiner kann so gut kombinieren wie Wir Japaner. Ausführliche Analysen am Ende jeder Photostrecke, die monatlich geupdated werden, und ein niedliches Diskussionsforum für Kiddies betteln direkt nach einer soziologischen Verwertung.
In Deutschland gibt es in Print und Online den Ableger „Streetfashion“, dessen Macher in Wien sitzen. Auf der Website www.streetfashion.org/ kann man zwischen den verschiedensten Kategorien wählen und bekommt dann eine Auswahl von Fotos auf den Bildschirm gestellt. Urban Creatives, Distinguished Hedonists, Infogeeks und Me Too“s sind nur einige davon. Für diese Seite, wie auch für die etwas originäreren Japanischen gilt, was „Ty King“ im November ins Kiddie-Forum von j-streetstyle stellte: „There is no such place to buy „Japanese Fashion“. The „Fashion“ is what you make of it as a personal statement, not a specific brand or look. Remember you are out to blaze trails. If you are fashionable these websites that attempt to sell you the street fashion is not really what you are expecting.“