Theorie der Sicherheit
Neun Tage nach den Terroranschlägen auf die USA erschien in der FAZ ein kurzer Text des italienischen Philosophen Giorgio Agamben zu den sich abzeichnenden Reaktionen der westlichen Staaten.1 „Im Laufe der fortschreitenden Preisgabe traditioneller staatlicher Aufgaben“ heißt es dort, dränge sich „die Sicherheit als Grundprinzip staatlichen Handelns auf.“ Ein Staat aber, „der als einzige Legitimation und als einzige Aufgabe die Sicherheit hat, ist ein zerbrechlicher Organismus; er kann ständig vom Terrorismus provoziert werden, selbst terroristisch zu werden“. Die gegenwärtige „Suche nach Sicherheit“ drohe so zuletzt gar in einen „Weltbürgerkrieg“ zu führen, „der jedes zivilisierte Leben unmöglich macht“.
Nicht ganz zufällig wohl hat sich dies zwischenzeitlich einmal wie eine vorweggenommene theoretisch-intellektuelle Rückendeckung für die - unter dem Banner „Die Gewaltspirale durchbrechen!“ sich reformierende - Friedensbewegung ausnehmen können. Es ist tatsächlich in Voraussicht auf die Möglichkeit (auch) einer solchen, deutschen Rezeptionsweise hin formuliert worden. Dann fragt sich allerdings, ob irgendjemand, der an „De-Eskalation“ interessiert ist, etwas von der hier vorgelegten Analyse haben wird.
Giorgio Agamben ist hierzulande bislang noch wenig bekannt.2 Das Buch, durch das er sich andernorts einen Namen gemacht hat, liegt bis heute nicht in deutscher Übersetzung vor.3 In den USA ist dies etwas anders. Praktisch das gesamte Werk Agambens ist übersetzt, und unter den Studenten der literaturwissenschaftlichen Departments sowie einigen ihrer Professoren wird Agamben längst wie ein Theorie-Star von nicht viel geringeren als derridaschen oder foucaultschen Ausmaßen gehandelt. Gilt ihnen Agambens Philosophie doch zudem auch noch als „politisch“ ungleich brisanter und unmittelbarer relevant als - letztlich - die Werke seiner beiden Star-Kollegen zusammen.4 Dazu paßt, daß mit der Stellungnahme in der FAZ nun auch einer der ersten der breiteren deutschen Öffentlichkeit zugänglichen Texte Agambens eine politische, ja tagesaktuelle Intervention darstellt. Es ging hier offenbar nicht zuletzt um eine gezielte Einstimmung des Publikums auf die anstehende Rezeption seines Werkes in Deutschland. Konturiert dieser Text also vielleicht besonders deutlich, was Agambens Philosophieren auszeichnet? Und was es „politisch“ zu bieten hat? Es scheint vielmehr darum gegangen zu sein, die letzte politische Konsequenz seiner Philosophie noch zurückzuhalten.
Für den ersten Teil der dort vorgetragenen Diagnose - den wachsenden Rang der „Sicherheit“ im staatlichen Selbstverständnis - beruft Agamben sich ausdrücklich auf Arbeiten Michel Foucaults. Die Paten des zweiten, weit schwerwiegenderen Teils seiner Gefahren-Analyse dagegen bleiben unbenannt: Carl Schmitt und seine „Theorie des Partisanen“5. Agamben, bereits in der Diktion an Schmitt erinnernd: „In der neuen Lage, die nach dem Ende der klassischen Form des Krieges zwischen souveränen Staaten entstanden ist, wird also deutlich, daß die Sicherheit mit der Globalisierung an ihr Ziel gelangt: Sie impliziert die Idee einer neuen planetarischen Ordnung, die in Wahrheit die schlimmste aller Unordnungen ist.“ Den Hintergrund für die aktuell so gefährliche Lage bildet für Agamben also eine grundlegende historische Veränderung des Krieges bzw. der Bedingungen seiner Möglichkeit. Mit dem Schmitt der Partisanen-Schrift gesagt: Da ein klassischer Krieg zwischen souveränen Staaten unführbar geworden ist (Stichwort: Ungleichgewicht; gäbe es nur die Option „klassisch geführter Kriege“, würde es von vornherein feststehen, welche Staaten gewinnen, welche verlieren würden), Gewalt als Mittel der Politik aber nicht aus der Welt zu schaffen ist, muss die Gewalt notwendig zunächst in Partisanen- und Guerillakämpfe gegen Kolonialstaaten und übermächtige Gegner sozusagen ausweichen, um sich am Ende, wenn der Gegner für den „Partisanen“ nicht einmal mehr „vor Ort“ greifbar ist, in „Terror auf dem Territorium des Gegners“ zu entladen. Für solche „Kriege“ jedoch könne es womöglich keinerlei rechtliche Fassung mehr geben, keine Grenzen der Grausamkeit, keine klaren Unterscheidungen, weder von „Verbrechern“ und „Feinden“, noch von Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Im Gegenteil, „in dem Teufelskreis von Terror und Gegenterror“, schreibt Schmitt, „ist die Bekämpfung des Partisanen oft nur ein Spiegelbild des Partisanenkampfes.“ Es ist wohl offensichtlich: Der Hinweis auf diese Gefahr bildet den Kern von Agambens Kurzintervention. Ein „Krieg gegen Terror“ scheint ein Unding. Er muß zum Spiegelbild seines Gegners werden, er kann nur „Terror gegen Terror“ bedeuten: „Heimliche Komplizen. Über Sicherheit und Terror“, der Titel enthielt bereits die ganze These.
Ein kleiner Unterschied zu Schmitt allerdings ist dann doch außerordentlich wichtig: Das Eskalationsrisiko scheint bei Agamben nicht aus der Entwicklung des Krieges selbst oder aus den gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen des Krieges in der Moderne zu resultieren, sondern nur unter den Bedingungen einer bestimmten „Gouvernementalität“, nur unter der Bedingung einer staatlichen Fixierung auf eben „Sicherheit“ zu existieren. Trennt sich der Staat von ihr, scheint die Gefahr gebannt. Am Ende des Textes heißt es jedenfalls: „Nichts ist daher notwendiger als eine Revision des Begriffs der Sicherheit als Leitgedankens staatlicher Politik. Die europäischen und amerikanischen Politiker müssen endlich die katastrophalen Konsequenzen bedenken, die ein unkritischer Gebrauch dieser Denkfigur im globalen Maßstab nach sich zu ziehen droht. Nicht, dass Demokratien darauf verzichten müßten, sich zu verteidigen: Aber vielleicht ist die Zeit gekommen, an der Vorbeugung von Unordnung und Katastrophen zu arbeiten, nicht nur an ihrer Beherrschung.“<a name=6a href=#6b>6</a>. Entgegen des ersten Eindrucks wird das Problem mit der Verengung auf diesen vermeintlich einfachen Ausweg allerdings nur noch größer. Führt diese Zurückführung der aktuellen Gefahren auf (alleine) die Struktur des modernen Staates doch unmittelbar ins Herz von Agambens politischer Philosophie, und zu deren letzter Konsequenz - die er hier allerdings verschweigt. Dient seine ganze Arbeit doch dazu zu zeigen, daß und warum der moderne Staat nicht in der Lage ist, zu einer in Agambens Sinne demokratischen, vorbeugenden Politik zurückzukehren. Ein Geburtsfehler der Moderne wird es ihr am Ende also unmöglich machen, die Katastrophe abzuwenden.
Carl Schmitt malte zwar kräftig am Bild einer notwendigen Eskalation, es diente ihm aber vor allem einer exoterischen Begründung der „Illegitimität der Moderne“ - für die Unsicheren unter ihren Liebhabern gewissermaßen. Für die esoterische Begründung genügte ihm, was er ebensowenig ausschloß: daß der Staat davor zurückschrecken wird, alle verfügbaren Mittel auch tatsächlich einzusetzen - weil er sich am Ende doch an „Legalität“ orientiert; daß selbst die Terroristen nicht an einer Eskalation interessiert sind - weil sie „einer Legitimierung“ durch die Weltöffentlichkeit bedürfen, wenn sie „nicht einfach ins Kriminelle absinken“ wollen; oder: daß Terror zu einem Dauer-Risiko nach Art der Kriminalität absinkt - seine Bekämpfung also eben gerade nicht, wie Agamben meint, einen „dauerhaften Bezug auf einen Notstand“ voraussetzt. Carl Schmitt war sich, heißt dies, auf jeden Fall alles andere als sicher, daß die „neue planetarische Ordnung“ - und mit ihr jeder Krieg in der Moderne - in einen „Weltbürgerkrieg“ münden müssen.
Giorgio Agamben dagegen ist sich sicher: uns stehen noch unausdenkliche Atrozitäten bevor und wenn vielleicht am Ende auch nicht aus der „Sicherheitspolitik“, so doch ganz sicher aus irgendeiner anderen Eigenart der Moderne resultierend - weshalb er die aktuelle Lage dann wohl, kaum geprüft, auch bloß noch seinen „reihum ausgemachten Beispielen“7 zuschlagen zu dürfen meinte. Dienen seine ganzen theoretischen und rhetorischen Anstrengungen doch dazu, in „eigenwillig eklektizistischem Bezug auf Carl Schmitt, Hannah Arendt und Michel Foucault“ - wie Ekkehard Knörer in einer der wenigen deutschen Kritiken zu Agambens Werk dieses treffend be-schreibt - nach und nach immer mehr Aspekte der Moderne „als Symptome einer tödlichen und todbringenden Konstruktion der modernen Gesellschaft lesbar“ zu machen. Bislang hat die moderne Gesellschaft noch Jeden widerlegt, der ihr, allzu sicher, nur eine, ganz bestimmte Zukunft zutraute. Man darf also hoffen, daß es dabei auch bleiben wird.
Notes
1 Giorgio Agamben, Heimliche Komplizen. Über Sicherheit und Terror, in: FAZ v. 20.9.01, S. 45.
2 In deutscher Übersetzung erhältlich sind bislang nur: Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, Berlin 1998; ders., Idee der Prosa, München 1987; ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001.
3 Giorgio Agamben, homo sacer, Stanford 1998. Angekündigt ist die deutsche Ausgabe allerdings bereits, bei „amazon.de“ sogar noch für dieses Jahr: ders, Homo sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, Ffm 2001.
4 Unter den in deutscher Übersetzung erhältlichen Büchern vermittelt bislang nur „Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik“ einen ersten Eindruck von Agambens im engeren Sinne politischen Denken. Auch die Tragweite der dort vorgetragenen Gedanken erschließe sich dem Leser jedoch, darauf verweist Agamben im Vorwort ausdrücklich, erst im Zusammenhang mit ihrer systematischen Herleitung in „homo sacer“.
5 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963. Durch die Beschränkung auf „Beherrschung der Unordnung“ hatte Agamben zuvor das „Sicherheitsdenken“ charakterisiert.
6 Dieses wie die folgenden Zitate aus: Ekkehard Knörer, Giorgio Agamben: The Man without Content (1994),