Dany Mueller (3) Der Tag schien nicht enden zu wollen. Sie sehnte sich in ihr Büro, in diese klare korrupte Welt aus Kaffeetassen und Zigarettenrauch. Sie hatte diesen Beruf gewählt, weil sie Uniformen liebte. Schon als Jugendliche hatte sie für das kleine Postamt ihrer Eltern, das diese gleich nach der Privatisierung eröffnet hatten, Briefe ausgetragen. Diese Position, von allen auf der Straße gleich erkannt zu werden, eine Kontinuität darzustellen, hatte etwas in ihr bewirkt. Seitdem trug sie das Bewußtsein mit sich herum, daß gerade in diesen Konstanten, die das öffentliche Leben ausmachen, die größten Untiefen und Fallen lägen. Alle diese Geheimnisse, die sie mit sich herumtrug, und alle diese Geschichten, die in ihr brodelten, die sie aus der Zeitung kannte. Postboten, die jahrelang Briefe gehortet hatten, ganze Halden von Briefen in ihren Zimmern liegenließen, bis sie selbst darin starben. Seit Jahren, seit sie bei der Polizei war, hatte sie nun den Eindruck auch sie würde solche Halden an nicht abgeschickten Briefen in ihrem Gedächtnis speichern. Erzählungen, die nicht ihren Adressaten, sondern die Polizei erreichten. Privates, das sich in Öffentliches wandelte, daß schleichend Gesellschaft bildete. Taten, die die öffentliche Einstellung zu Frauen prägten, gesellschaftliche Erzählungen, die Kind, Rauschgiftsüchtiger oder Wirtschaftskrimineller hießen. * Lindsay Hudson fuhr in diesem Moment mit der U-Bahn zu der Dinnerparty. Die vertraute Handlung befreite ihn für kurze Zeit aus den Gedanken, die ihn den ganzen Tag beherrscht hatten. Selbst als er für zwei Stunden eingeschlafen war, war ihm, als habe er unaufhörlich über das Ende der letzten Nacht nachgedacht. Im Halbschlaf, denn ein Traum war es nicht gewesen, war es ihm erschienen, als sei er in den Körper von Borghaus gestiegen und erwacht, als sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzog. Nun stellte sich die übliche, ihm immer etwas unangenehme Situation ein, wieder einmal allein auf einer Veranstaltung zu erscheinen. Seit Jahren fühlte er sich zur Einsamkeit verurteilt. Sein Hang zum Mondänen, zu teuren Hotels, zu den besten Restaurants, half ihm gelegentlich, dies für ein paar Stunden zu vergessen. Nicht daß man dort weniger isoliert war, aber Hudson konnte sich an diesen Orten in seine Kindheit zurückträumen. Seine Eltern waren vor elf Jahren bei einer Autofahrt ums Leben gekommen. Die Kindheit, für die er bis heute noch keine überzeugende Fortsetzung gefunden hatte, hatte so ein abruptes Ende gefunden. Er hatte geerbt, aber weniger als erwartet und war wohl mit einigen Anlagefonds nicht sonderlich geschickt umgegangen. Was vom familiären Vermögen übrig geblieben war, erlaubte ihm nur einen bescheidenen Alltag. Manchmal schlug er über die Stränge und war im daraus entstandenen Budgetloch dann wirklich arm. Aber zumindest konnte er immer noch in dem Haus wohnen und gelegentlich ein Glas Supermarkt-Kaviar, natürlich nur den roten, löffeln. |
Mit seiner Kunst verdiente er nichts,
was der Rede wert gewesen wäre, und andere Einkünfte hielt er für ein
Karrierehindernis oder hatte eigentlich keine Idee, woher sie kommen könnten.
Auch fühlte er sich weiterhin der sentimentalen Maxime des `Arbeite nie´
verpflichtet. Wenn ihn der Zustand der längeren Abwesenheit von Situationen,
die ihm eine Versenkung in der Erinnerung erlaubten, oder schlicht der
Mangel an aus Kindertagen vertrautem Luxus wieder einmal zu sehr bedrückten,
legte er sich für Wochen ins Bett oder schrieb vertrackte Oscar Wilde
Exegesen für Zeitschriften in kleinen Auflagen. Die Logik der Zahlen hatte Borghaus' Tod gefordert! Meist verbrachte er die melancholischen Phasen der Antriebslosigkeit, die die Mehrheit seiner Lebenszeit besetzten, mit der Entwicklung von Ordnungssystemen. Tagelang sortierte er die auf kleinen Zetteln notierten Telefonnummern von Menschen, die er in den vorherigen Monaten kennengelernt hatte. Er versuchte, Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Gruppierungen herauszuarbeiten. Hatte er sich für eine bestimmte Formation entschieden, was Tage und Wochen dauern konnte, fixierte er diese mit Tesafilm. Das Betrachten dieser Flickenteppiche
aus Namen und Zahlen auf wechselnden Papierqualitäten gab ihm ein angenehmes
Gefühl, wie andere es wohl beim Betrachten von Stadtplänen oder Wanderkarten
verspüren. Jede der Nummern in diesem System stand für eine Figur in diesem
freudlosen Spiel, dem `Betrieb´, zu dem es sie alle mit einer merkwürdigen
Hingabe hinzog.
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