Diedrich Diedrichsen

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Doch so wie man mit der denotativen Komponente von Photographie, der allgemeinen Einigung darüber, daß jeder auf einem Foto abgebildete Mensch einem empirischen, sterblichen Menschen entspricht, Soziologie betreiben kann, so kann man das Zustandekommen und Leben mit dieser Konvention auch phänomenologisch betrachten.

Entscheidende Traktate der Theorie der Photographie definieren sie als Möglichkeit der Kommunikation mit den Toten, "in die Augen zu sehen, die den Kaiser gesehen haben" - wie Roland Barthes notierte, als er eine Photographie von Napoleons Bruder ansah. Den Phänomenologen interessiert u.a., was daraus, daß wir Tote und vergangene Zeiten als und wie Lebende auf Photographien ansehen können, einerseits für unsere generelle Wahrnehmung, andererseits für die Produktion von Photographie folgt.

Heute ist nun diese zumindest einseitige Kommunikation mit den Toten und mit den Lebenden als zukünftigen Toten empfindlich gestört.
Wir haben uns durch die ständige Anwesenheit von längst gestorbenen Stars auf massenkulturell verbreiteten Photographien und durch entsprechend verbreitete, zur Ikone zusammengeschnurrte historische Film- und Fotobilder ohne konkrete Personen, aber mit sofort erkanntem historischen Gehalt, daran gewöhnt, Personen auf Bildern und erkennbare Vergangenheit auf Bildern von realen Personen und realen historischen Situationen abzutrennen, und damit genau von der Welt der Sterblichen. Bilder sind historische Daten wie die durch abstrakte Schriftzeichen vermittelten. Es bedarf einer zusätzlichen Aktivität der Rezipienten, sie wieder in einer engeren Beziehung zu den abgebildeten Personen und Gegenständen zu lesen.

Die Brücke von sterblicher Person und relativ unsterblicher Abbildung muß erst durch Vergegenwärtigungen mühsam wiederhergestellt werden. Deren mit Innigkeit verknüpfte Mühseligkeit fühlt sich ungefähr so an, wie es sich früher angefühlt haben muß, auf religiösen Genrebildern biblische Geschichte oder gar den religiösen Gehalt selbst wiederzuerkennen und sich als frommer Mensch zu vergegenwärtigen, daß man z.B. Jesus sieht und von ihm gesehen wird.

Es ist vor allem ein besonderes Bewußtsein von der spezifischen Unwiederbringlichkeit, Vergänglichkeit und dem besonderen Wert einer Eigenschaft eines Sterblichen vonnöten, um sich wieder in diesen verwunderten Zustand zu versetzen, wo man empfänglich ist für das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten, deren Überschreitung den Lebenden nie gestattet war. Das ist also das lebende Gesicht eines mittlerweile toten Menschen. Roland Barthes hatte dafür als Ausgangspunkt Photographien seiner toten Mutter.

Bei den beiden Fotobüchern, um die es hier geht, ist auch für dieses Bewußtsein gesorgt. Das ist leichter anhand des zweiten Beispiels beschrieben, am Beispiel des Buches, das Jörg Schlick, Peter Weibel und Wolfgang Bauer in Erinnerung an Martin Kippenberger veröffentlicht haben.

Jeder, der Kippenberger gekannt hat, besteht in der Regel darauf, daß es neben seinen offiziell als "Werke" kenntlich gemachten bildkünstlerischen Produkten, gesicherten Interventionen und den reichlich kursierenden Anekdoten noch eine andere Ebene gegeben habe, die man gekannt haben muß, um seine gesamte Arbeit zu verstehen.
Diese Ebene wird gerne angedeutet in Texten, die dann etwa von seiner Art zu tanzen handeln. Dieser andere Kippenberger, der erst den Schlüssel zu seiner offiziellen Arbeit liefert, der erst das Register anzeigt oder, wie alles gemeint ist, den gibt es nicht mehr. Hat er also wie ein Theaterdarsteller, ein undokumentierter Musiker seine Arbeit mit ins Grab genommen?

 

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