Ingo Niermann

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Auf den Covern aber spinnt Morley mit Zitaten aus der Literaturgeschichte und den Kulturwissenschaften einen fortwährenden Summs der Dekadenz: ,Boredom’ amongst the young is a relatively new concept, of course... ,H’ stands for ihe two current choices - Heroin and Hooliganism.Vicarious pleasures of violence and torper - previously confined to the Aristocrucy - have been reclaimed.

ZTT sollte das verklären: Geht die Welt unter - was auch immer das heißt -, haben wir unsere Plätze längst verlassen für einen entspannten, bedenkenlosen Sex und meinen mit aller uns möglichen Egozentrik, wir seien es gewesen, die sie zum Untergang brächten und unser Leben verzehrten. Wir denken noch einmal die große Liebe als eine Gotteskraft, habe seltsame Begegnungen und wandeln in süßen Erinnerungen.

Der eklatante Erfolg von Frankie Goes To Hollywood und die außerordentliche Qualität der sehr unterschiedlichen Produkte kann wohl die Aufmerksamkeit auf ZTT lenken, doch die Begeisterung erwärmt sich nicht. Diese Musik, dieses Gebaren ist wirklich unterkühlt, kein Düsseldorfer Phlegmatismus, und kann deshalb aufwühlende Emotionen mit langem Atem durcheilen und in ihren feinen Details erlebbar machen. Das ist Spätromantik, und ihr Futter 1984 war Burt Bacharach und Bruce Springsteen. Eine Single ist weiterhin nur unwesentlich billiger als eine Kinokarte. Sie dauert vielleicht vier Minuten. Wirst du sie dreißigmal in ähnlicher Erregung wie beim ersten Mal hören können? In der Popmusik ist die Sublimation gering und bleibt gebunden an die üblichen Rollen, den üblichen Sex.

Frankie hat ein schwules Auftreten dem heterosexuellen Mainstream nicht verträglich gemacht, wie Disco, sondern hat es den Schwulen selbst entzogen und in das heterosexuelle Ghetto transferiert. Dort funktioniert Frankie wie alle anderen Idole auch. Jungen und Mädchen bewundern ihren Umgang mit Sexualität, Wahrheit und Moral -FRANKIE SAYS - und wissen, daß es für sie nicht geht. Das ist nicht der Skandal, Schock - wer kauft deshalb eine Platte -, sondern:
Ich wäre gerne wie Jodie Foster, bin aber nicht lesbisch; ich wäre gerne Madonna, aber bin ein stockgerader Mann. Holly Johnson mit den groß gezogenen Gesten, Paul Rutherford als sein großer Knappe und schließlich die Lads, die sie als harmlose, süße Gang komplettieren.

Ihr Verhältnis zueinander ist ungeklärt. Es gibt nur den Weg hinauf oder hinab. Als sie oben anzustoßen scheinen, tritt Trevor Horn zurück. Als Holly Johnson abspringt, was ZTT gerichtlich zu verhindern sucht, indem es seine eigenständige künstlerische Existenz abstreitet, hat er keine Wahl. Ihm bleibt nur das Selbstbildnis eines entsexualisierten, von AIDS ausgezehrten Dandys, der mit seinem Freund Wolfgang wie einem adoptierten Onkel sparsam und kräftesparend lebt

. Heute steht Jarvis Cocker zur Verfügung, etwa derselbe Jahrgang wie Holly Johnson. Jarvis brauchte nicht eine Platte, sondern 10 oder 12. Jarvis ist heterosexuell und weiß, was ihn an Frankies Umgang mit Sexualität, Wahrheit und Moral hindert. Er singt von den Entbehrungen, Enttäuschungen, Hindernissen. Der Andersartigkeit der Frauen, seinen Zweifeln. Das klingt viel sympathischer, ja? Und es hat mehr Bestand? Können wir uns jetzt wenigstens auf eine Exaltation einigen, die die Welt nicht zur Rede stellt, nicht zum Schweigen zwingt, die wir liebgewinnen können, aber, sagen wir, in dem Moment von uns trennt?